laut.de-Kritik

Dieser Hirsch lässt sich nicht einfangen.

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"Wer sich jetzt noch umdreht ist selber schuld", heißt es im Opener "Anamnesis". Passender kann man ein Album nicht einleiten, das auch nach dem fünften Durchlauf noch dermaßen viel Neues, Unbekanntes und Verstörendes zu Tage fördert, wie "Holon: Anamnesis", das zweite Studiowerk von The Hirsch Effekt. Gehts noch abgedrehter, verspielter, vertrackter? Wohl kaum. Auch mit ihrem zweiten Album spielen die Hannoveraner Weirdoz mit allen Jägern Katz und Maus. Dieser Hirsch lässt sich einfach nicht einfangen.

Hier treffen sich Herbert von Karajan und Chuck Schuldiner zum Austausch von musikalischen Vorlieben auf Wolke 7. Und weiter unten, da wo das Leben tobt, klatschen Avantgarde-Geister wie Mike Patton und Les Claypool begeistert in die Hände. Wer meint, dass Bands wie At The Drive-In und Co. die Verrücktheit gepachtet hätten, der wird bereits beim fließend ineinander übergehenden Einsteigerduo ("Anamnesis", "Limerent") eines Besseren belehrt. Kryptische Lyrik, kaum nachvollziehbare Rhythmus-Wechsel, philharmonische Spielereien und brachiale Metal- und Hardcore-Einschübe lassen die Sinne Achterbahn fahren und sorgen für massenhaft Fragezeichen bei Freunden eingängiger Klänge.

Das dürfte aber auch kaum die Zielgruppe sein, auch wenn die Niedersachsen im Refrain von "Absenz" oder zu Beginn von "Agitation" kurzzeitig beweisen, dass ihnen gängige Melodieabfolgen nicht vollkommen fremd sind. Diese punktuellen Lichtmomente für Standard-Hörer sind aber die Ausnahme auf einem Album, das ansonsten vor allem durch eines glänzt: grenzenlose Vielfalt. Es ist schon faszinierend, wie dieses Melange-Shuttle aus urbanem Bombast, filligraner Zartheit und hibbeligem Chaos in fernsten Welten seine Kreise zieht, ohne am nächstbesten Meteorit zu zerschellen.

"Ich würde zu gerne wissen / siehst du das auch so wie ich?", fragt Sänger Nils Wittrock im Song "Limerent". Irgendwie nicht, ist wohl das Erste, was den meisten Hörern nach dem Genuss von "Holon: Anamnesis" durch den Kopf schießen dürfte. Doch wer sich die Zeit nimmt, die unzähligen Einzelteile des Albums zusammenzupuzzeln, wird es nicht bereuen. Denn irgendwann fügt sich alles zusammen. Man muss nur genau und lange genug hinhören. Was anfangs noch völlig wirr klingt, hat nach mehrmaligem Durchlauf gar einen dickeren roten Faden vorzuweisen als so manches Standard-Konzept-Schaffen.

Trackliste

  1. 1. Anamnesis
  2. 2. Limerent
  3. 3. Absenz
  4. 4. Agitation
  5. 5. Ligaphob
  6. 6. Mara
  7. 7. Irrath
  8. 8. Ira
  9. 9. Datorie

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13 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 12 Jahren

    kenn ich mal so überhaupt nicht, klingt aber irgendwie interessant.

  • Vor 12 Jahren

    Das Beste was ich seit langem gehört habe! Das Album davor vor schon ganz großes Kino. Aber das hier... Echt krass!!!

  • Vor 12 Jahren

    Mindestens als (Hobby-)Musiker der härteren Gangart hat man mal so eine Phase, wo man das hier (und The Dillinger Escape Plan, Converge, The Blood Brothers, These Arms Are Snakes, iwrestledabearonce, The Number 12 looks like you und und und) gut finden muss, weil es einem verdeutlicht, wie viele Noten in 4 Sekunden Part passen. Und das ist eine erhebende Phase, die einen technisch unglaublich weiterbringt auf seinem Instrument... bis man nach einigen Jahren merkt, dass es nicht die Komplexität ist, die einen Song ausmacht.
    Diese Epiphanie ist bei mir jetzt einige Jahre her, und seitdem hab ich nur schwerlich zu sowas wie Hirsch Effekt (deren erste Scheibe hier noch liegt - gekauft, als die Phase eigentlich schon vorbei war) oder den genannten, üblichen Verdächtigen zurück gefunden.

  • Vor 12 Jahren

    @soulburn: Noch mal Props, Du hast ziemlich gut beschrieben, was ich meinte. Ich schätze, irgendwann begeben sich viele Musiker nach jahrelanger Übung und Isolation wieder mehr auf die Hörer zu. Wie Du schon sagtest, haben sie es dann nicht mehr nötig, ihre Virtuosität für so wichtig zu nehmen und nutzen sie nur dann wenn sie der Wirkung dienlich sind.
    Darum bewundere ich brilliantes und wirksames Songwriting und ein tragendes Soundgewand sehr viel mehr als jedes noch so flink vorgetragene, exzessive Frickelsolo.

    • Vor 11 Jahren

      so ein quatsch.. in der klassischen musik und im jazz sind virtuosität selbstverständliches und unabdingbares werkzeug und ausdrucksmittel - ich kann diesen pseudo: "ich-bin-darüber-hinweg-und-da-raus-gewachsen"-im-nächsten-level-angekommen-geschwafel, nicht mehr höre, weil unüberlegter unsinn!

  • Vor 12 Jahren

    Der Satz "Es ist nicht Komplexität, die einen Song ausmacht" ist zwar grundsätzlich richtig, an dieser Stelle jedoch ein abgenudelter Allgemeinplatz. Mich persönlich reißen The Hirsch Effekt absolut mit, da ich die Songs großartig komponiert und arrangiert finde und sie mich emotional kicken. Natürlich spricht eine so doppelbödige Musik mit mutigen, persönlichen Texten nicht jeden Hörer gleichermaßen an. Hier geht man dann aber wirklich nur von Empfindungen aus und nicht von einer tieferen Wahrheit, wie sie solche allgemeinen Sätze andeuten.

  • Vor 3 Jahren

    Wo bleibt der Meilenstein? :D