laut.de-Kritik

Die Geburtsstunde des Alternative Rock.

Review von

"Come on, fucker!" Diese Worte richtete Sänger Paul Westerberg an seinen merklich angesoffenen Gitarristen Bob Stinson, damit dieser nicht wie schon bei der Probe seinen Einsatz für das Gitarrensolo in "Bastards Of Young" verpasst. Das Problem: Es handelte sich nicht um einen üblichen Gig, die typisch für The Replacements vor Bier trieften und für wirre Setlists bekannt waren, sondern um eine nationale Liveübertragung für die US-amerikanische Fernsehinstanz "Saturday Night Live".

Die Verantwortlichen bei der NBC sprachen der Band für diese Obszönität im Anschluss ein lebenslanges Verbot für die Sendung aus. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sich The Replacements im Backstagebereich mit Bier und Substanzen zuknallten und dabei den Warteraum "umdekorierten". Oder daran, dass sie den damaligen SNL-Moderator Harry Dean Stanton zu Bier und Lines einluden, was dieser dankend annahm. Oder daran, dass Bob Stinson in der folgenden Nacht in einer vom Suff befeuerten Handgreiflichkeit mit seiner Freundin das vom Sender bezahlte Hotelzimmer zerlegte und einen Sachschaden von 1.100 US-Dollar verursachte.

In der Summe entwickelte sich dieser Abend am 18. Januar 1986 auch für die Plattenfirma Warner, bei der The Replacements vor ein paar Monaten ihr Major-Debüt "Tim" veröffentlicht hatten, zum Desaster. Die Labelbosse krochen später bei der NBC zu Kreuze, um Auftrittsverbote für weitere Warner-Acts zu verhindern. Immerhin kurbelte der Auftritt die schleppenden "Tim"-Verkaufszahlen etwas an.

Diese Eskalation bezeichnet die Tragik in der Bandgeschichte von The Replacements, die sich in ihrer Genialität schon immer selbst am meisten im Weg standen. Wegweisendes Songwriting und visionäre Klangideen trafen Zeit ihres Bestehens auf Selbstzweifel, Selbstzerstörung und Suchtprobleme. Dabei hatten sie, als sie mit "Tim" auf der SNL-Bühne standen, ihr Meisterwerk schon längst abgeliefert: den Vorgänger "Let It Be".

Auf ihrem dritten Album von 1984 schnitzten The Replacements aus ihren Punk-Anfängen erstmals feine Pop-Ornamente heraus und entwickelten so eine Blaupause für die zukünftige Alternative-Rock-Sparte. Zusammen mit den Texten zwischen Teenage Angst, sexueller Identität und Liebeskummer kreierten "The Mats" ein Standardwerk des Coming Of Age, das sich direkt neben "Die Reifeprüfung" einordnen kann. "Let It Be" vereint den infantilen Humor der Band mit den Wirren aus den Leben junger Erwachsener, die noch ihren Platz in der Welt suchen.

Dass das Quartett mal ein derart einschneidendes Werk hervorbringen würde, ließen die Anfänge nicht unbedingt vermuten. In Minneapolis probten 1978 die Halbbrüder Bob und Tommy Stinson zusammen mit dem Schlagzeuger Chris Mars unter dem Namen Dogbreath, coverten Kiss-Songs und hauten sich währenddessen mit Bier zu. Paul Westerberg, der zu dieser Zeit als Hausmeister für einen Lokalpolitiker arbeitete, kam auf seinem Arbeitsweg am Proberaum vorbei und war vom Sound des Trios so angetan, dass er sich als Sänger und Gitarrist einbrachte.

Nach der Umbenennung in The Replacements fabrizierten die vier einen rohen, stark von britischen Bands wie Buzzcocks oder The Clash beeinflussten Punkrock, der auch mal in den Hardcore überschwappte. Auf der ersten EP "Stink" und dem Debütalbum "Sorry Ma, Forgot To Take Out The Trash" dominierten kompakte, rifforientierte Punk-Anthems, die Westerberg aber schnell ermüdeten. Auf "Let It Be" öffnete er die Band für differenzierte Songstrukturen und etablierte Pop-Melodien und Balladen in der Replacements-DNS.

Schon Opener "I Will Dare" macht mit fluffigem Indie-Swing die Neuausrichtung überdeutlich. The Replacements wechseln die britischen Vorbilder aus und orientieren sich stark an The Smiths, während Westerberg von zaghaften Date-Versuchen singt. R.E.M.-Gitarrist Peter Buck, der ursprünglich auch als Produzent geplant war, zeigt sich hier für das luftige Solo verantwortlich.

Die Produzentenrolle ging für "Let It Be" an Steve Fjelstad, der den Spagat zwischen der neuen Eingängigkeit und dem rumpeligen Schwips der Band auch klanglich wunderbar auf die Platte übertrug. Nonchalant lehnt der Sound mit einem Glas in der Hand an der Bar, immer kurz davor, abzurutschen. Bob Stinsons holpriges, aber stets beschwingtes Gitarrenspiel trägt zu diesem Charme ein großes Stück bei.

Mit "We're Coming Out" machen The Replacements hingegen ihre Punk-Wurzeln deutlich und behandeln in ironischer Selbstreflexion ihre Live-Auftritte, die großen Qualitätsschwankungen unterlagen. Die Band machte sich beispielsweise einen Spaß daraus, eingefleischte Punks mit einer "Softie-Setlist" vor den Kopf zu stoßen. So verballhornten sie etwa "Let It Be" von den Beatles, indem sie es mit ihrem Song "Fuck School" vermischten. "One more time to do it all wrong / One more night to get it half right", resümieren sie diese Erfahrungen auf dem brachialen "We're Coming Out".

Von den Beatles entnahmen The Replacements natürlich auch den Albumtitel. Der Band ging es hauptsächlich darum, mit dieser Wahl ihren Entdecker und Manager Peter Jesperson aufzuziehen, der großer Fan der Liverpooler ist. Das Motto dabei lautete: "Nichts ist heilig, auch nicht die Beatles".

Ganz andere Töne schlägt wiederum Westerbergs Piano-Ballade "Androgynous" an, die das Thema Crossdressing und sexuelle Identitätsfindung auf weiche Kissen bettet: "Mirror image, see no damage / See no evil at all". The Replacements zelebrieren hier bedingungslose Selbstliebe und bilden mit diesem herzerwärmenden Stück den größten Kontrastpunkt des Albums. Die Gebrüder Stinson hatten nie viel für Westerbergs Balladen übrig. Kraftvolle Songs wie dieser erheben "Let It Be" aber erst zum zeitlosen Klassiker.

Dazu gehört auch "Unsatisfied", bei dem eine Slide-Gitarre den Teppich für Westerbergs Ode an die Unzufriedenheit ausrollt. Mit ehrlicher Inbrunst vertreibt der Sänger seinen Frust, indem er den Song zu einem Gefühlsausbruch hochschaukelt. Hier kommen die starken Einflüsse von Westerbergs Idolen Big Star und dessen Frontmann Alex Chilton zum Tragen.

In der klassischen Rock-Nummer "Seen Your Video" geben The Replacements ihre Verachtung für MTV und den damals aktuellen Musikvideo-Boom zum Ausdruck. Für das Album "Tim" zwang ihr späteres Label Warner sie dann doch, ein Musikvideo für die Single "Bastards Of Young" einen Clip zu drehen. Ihre Antwort und gleichzeitiger Mittelfinger an die Industrie war ein One-Shot-Clip in Schwarz-Weiß, in dem nur eine Einstellung von einem Lautsprecher zu sehen ist.

Obwohl The Replacements auf "Let It Be" durchaus die großen Gesten des Glam Rocks schätzten, was auch das grandiose Kiss-Cover "Black Diamond" beweist, hatten sie auf den Musikzirkus schlicht keinen Bock. Diese Einstellung darf man schätzen, oft stand ihnen diese Antihaltung aber auch im Weg.

Den grandiosen Schlusspunkt des Albums setzt das flehende "Answering Machine". Die treibende Gitarre ersetzt hier das fehlende Schlagzeug mühelos, während Westerberg seine Wut über vergangene Liebe, Trennung und Ignoranz freilässt: "How do you say good night to an answering machine?" fleht er im Refrain. Das erinnert nicht nur thematisch an Nirvanas "About A Girl", Kurt Cobain holte sich auch für seine Pop-Refrains nicht nur bei den Pixies und R.E.M. seine Inspiration, sondern auch bei dieser Band aus Minneapolis.

Die musikalische Reichweite von "Let It Be" ging aber weiter als bis zum Grunge. So beeinflusste das Album den frühen Pop-Punk von Green Day ebenso wie den fragilen Americana-Sound von Wilco. Heute hallt dieses Meisterwerk etwa in der Explosivität von Bands wie den großartigen The Men nach. Eine Säule des Alternative-Rocks bleiben The Replacements sowieso.

Leider schaffte es die Band nie, sich in ähnliche Höhen wie etwa die Kollegen von R.E.M. aufzuschwingen. Nach dem SNL-Fehltritt besserten sich die Probleme der Band nicht. Vor allem Bob Stinsons Konsum von Alkohol und Drogen nahm untragbare Ausmaße an. Ein Versuch, trocken zu werden, scheiterte an Westerberg, der Stinson zum Champagner saufen aufforderte.

Schließlich warf Westerberg ihn aus der Band, er landete nie richtig auf den Füßen. Stinsons viel zu früher Tod im Jahr 1995 bleibt ein Schatten auf dem Vermächtnis dieser wegweisenden Band. Die enorme Inspiration für Generationen von Musikern, die The Replacements zur Schöpfung ganz neuer Genres heranzogen, bleibt bis heute ungebrochen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. I Will Dare
  2. 2. Favorite Thing
  3. 3. We're Comin' Out
  4. 4. Tommy Gets His Tonsils Out
  5. 5. Androgynous
  6. 6. Black Diamond
  7. 7. Unsatisfied
  8. 8. Seen Your Video
  9. 9. Gary's Got A Boner
  10. 10. Sixteen Blue
  11. 11. Answering Machine

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2 Kommentare

  • Vor 3 Jahren

    The Replacements müssen in den all den Jahren irgendwie komplett an mir vorbei gegangen sein. Insofern wirds jetzt eigentlich Zeit, mir dieses Album mal genüsslich zu geben. Ein Vorteil ist, dass ich vor 1-2 Jahren auf den Song "Swinging Party" gestoßen bin und der sich konsequenterweise zu einem meiner großen Lieblinge entwickelt hat. Ma' gucken!

  • Vor 3 Jahren

    Machte Punk poppig ohne ihn weichzuspülen, bei mir hat "Murmur" aber größere Wellen geschlagen.