laut.de-Kritik
80 Geburtstagssongs erzählen von einer Jahrhundertkarriere.
Review von Ulf KubankeWas haben Karel Gott, Marduk und U2 gemeinsam? Viel wird es nicht sein. Doch immerhin berufen sich alle drei maßgeblich auf die Stones als Haupteinfluss und covern - mehr oder minder inspiriert - den sinistren Gassenhauer "Paint It Black". Zum Glück hat Jaggers Truppe in den letzten 50 Jahren mehr vollbracht als seltsame Leute zu inspirieren. Mit fetten 80 Geburtstagssongs (zwei davon neu) setzen sie auf "Grrr!" die eigene Jahrhundertkarriere gelungen in Szene. Kongenial symbolisiert durch die fordernden "Tongue & Lip" made by John Pasche, die seit mehr als vierzig Jahren in verschiedenen Varianten reinkarnieren. Die Bekannteste sicherlich von Andy Warhol; diesmal durch Walton Ford. Trotz aller Anstrengung: Man hat schon interessantere Cover gesehen als dieses etwas bemüht wirkende Affenpic.
Obwohl so gut wie alle der zahlreichen Hits versammelt sind, konzentriert sich die Zusammenstellung erfreulicherweise ebenso auf weniger bekannte Tracks, die die musikalische Vielseitigkeit weit besser dokumentiert als die ewig gleichen "I can't get no Honky Tonk Angie"-Sampler. Damit eröffnet die vorliegende Sammlung dem Publikum einen musikalischen Blickwinkel, der die oft unterschätzte Bandbreite der Glimmer Twins eindrucksvoll dokumentiert. Besonders die Brian Jones-Ära wird angemessen berücksichtigt.
Ihre durchaus experimentelle und sehr psychedelische Facette anno "Their Satanic Majesties Request" offenbaren sie in "2000 Light Years From Home". Jagger schrieb die Lyrics dazu nach einer Verurteilung wegen Drogendelikte im recht einengenden Brixton Prison. Die herrlich schroffe Rarität "Child Of The Moon" ("Jumpin' Jack Flash" B-Seite) rundet das Bild detailverliebt ab.
"We Love You" - 1967 eine Extrasingle zu "Their Satanic Majesties ..." - ist lupenreiner Spacerock, quasi ein prähistorischer Stoner. Ein echter Genre-Geburtshelfer; chronologisch noch vor Pink Floyds Debüt veröffentlicht. Zuerst das nervös zuckende Piano zur ins Schloss fallenden Knasttür. Dann der zutiefst sarkastische Anti-Establishment-Text, in dem Jagger und Richards ihre jüngsten, wenig angenehmen Erfahrungen mit Polizei und Justizwesen kommentieren. "You will never win 'we' / Your uniforms don't fit 'we' / We forget the place we're in. 'Cause we love you / We love you. Of course, we do. Dazu passend im Hintergrund: Beatpoet Alan Ginsberg als irrer Zirkusdirigent samt Backingvocals.
Jedes Statement echt; kein Netz oder doppelter Protestpopindustrie-Boden. Im Gegenteil: Die devianten Engländer fühlten sich als verfolgter Dorn im Auge einer bürgerlich oktroierten Doppelmoral. Sogar Jaggers Süße, Marianne Faithfull, musste für einen spontanen Promofilm herhalten, in dem die Band den legendären Unrechtsprozess Londons gegen Oscar Wilde szenisch nachstellt. Damit ist "We Love You" auch einer der ersten Videoclips überhaupt.
Mit solcher Outlawcredibility sowie dem kometenhaften Flug aus der verarmten britischen Arbeiterklasse in den gesetzlosen Rock'n'Roll-Olymp, überstanden die Steine als eine der wenigen Dinocombos ihrer Zeit unbeschadet die Punkwelle. Auf dem souveränen 78er Album "Some Girls" klangen sie entsprechend rotzig. Ihr hier vertretenes "Respectable" muss sich auf keiner Party hinter den Ramones verstecken. Und das fiebrig verkaterte "Shattered" setzte sich - dank der speziellen Klangfarbe - seinerzeit sogar in Postpunkkreisen durch.
Niemand macht so schön den Macker wie Jagger. Gern gibt er die Testosteronschlampe und impft treibenden Rhythmusheulern wie "She Was Hot" oder "Brown Sugar" sein ganz und gar einzigartigartiges Fieber ein. Ein wenig Ladykiller, ein wenig Eulenspiegel und ein guter Schuss Schimpanse. Ab dafür! "Ah, brown sugar how come you taste so good? Brown sugar, just like a young girl should!" Wer das für zynisch, sexistisch oder gar rassistisch hielt, wurde nicht glücklicher bei Jaggers tougher Einbettung "Scarred old slaver know he's doin alright / Hear him whip the women just around midnight." Harscher Text in Partyrock-Tarnung. Künstlerisch so konsequent, dass Generationen angesoffener Nadelstreifen auf Kaviargelagen den Text nichtsahnend zu fiesem Top 40 Bandsound mitgrölen.
Wohl keine andere weiße Band ihrer Generation klingt so dermaßen schwarz wie die Stones. Ihren eigenen Vorbildern, den großen Bluesern wie Muddy Waters, haben sie in angemessener Ehrfurcht gedankt. Nicht wenigen dieser Pioniere verhalfen die jungen Briten zu einem späten Popularitäts- wie Geldsegen, der den Farbigen von ihren eigenen Labels oft vorenthalten wurde.
Die eigene Weiterentwicklung des Genres kann sich ebenfalls mehr als sehen lassen. Was sie aus Rhythm And Blues in "Midnight Rambler" machen, ist rhythmisch wie dramaturgisch seiner Zeit weit voraus. Vor allem der heruntergefahrene Mittelteil mit seinem kontrastierenden Keulenriff hat auch nach mehr als vier Jahrzehnten nichts von der aufgebauten Spannung eingebüßt.
Dieses Talent kommt den angepissten Fünf für ihre apokalyptischere Seite gerade recht. Die bedrohlich strahlende Zerstörungswut von "Gimme Shelter" als elegant pumpender Rockmantel. Dazu die großartige Gaststimme Merry Claytons "Rape Murder. It's just just a Sot away!". Kein freundliches Hippieliedchen, sondern schmerzerfüllter Aufschrei, der gegenwärtig leider nicht weniger aktuell ist als in jenen Tagen der Bedrohung.
"Sympathy For The Devil" dazu als okkulte Seite derselben musikalischen Medaille. Die behutsame gesangliche Steigerung parallel zu den schwellenden Instrumenten. Richards klingenscharfe Axt. Vom Gentleman zur entfesselten Bestie in sechseinhalb Minuten. Dazu ein im Wortsinne Killertext samt sprachlicher Bilder bis hin zu den ermordeten Kennedys, der für damalige Verhältnisse mehr als nur gewagt oder hardboiled war. Ein erster satanischer Pesthauch, der etwas später auch den Heavy Metal infizieren sollte. Die Künstler galten der Yellowpress fortan als Teufelsanbeter.
Auch außergewöhnliche Balladen werfen sie in den Ring. Das hauchzarte "As Tears Go By" von 1965 funktioniert in seiner zerbrechlichen Melancholie genau so bittersüß wie der Originalhit Marianne Faithfulls (1964 von Jagger/Richards für sie komponiert). Ebenso intensiv: Die psychedelische Perle "Play With Fire" und das soulige "Fool To Cry". Letzteres Lied (vom unterschätzten funky "Black'n'Blue") ist ein dermaßen sedierender Party-Rausschmeißer. Sogar Keith Richards schlief anno 1976 live bei einem Gig in Deutschland während der Performance ein.
Entgegen der landläufigen Meinung waren die 80er für die Rolling Stones keine kreative Talsohle. Zwar fragte die Presse Mick schon vor dreißig Jahren, wann er denn wohl zu alt wäre für den Job als Rockstar. Frische Songs wie "She's So Cold" ("Emotional Rescue" 1980) oder "Neighbours" ("Tattoo You" 1981) rocken trocken aufs Maul. Weit und Breit kein Hang zur damals modischen Überproduktion oder Pathos. Die weitgehend untergegangene Funknummer "Dance (Pt.1)" von "Emotional Rescue" klingt auch nach 32 Jahren noch erstaunlich frisch und pur. Zur Krönung des Jahrzehnts der "Harlem Shuffle" ("Dirty Work" 1986) mit Tom Waits am Piano. Keith hatte seinen Kumpel eingeladen, nachdem er mit Waits schon erfolgreich auf dessen Kultalbum "Rain Dogs" arbeitete.
Und die beiden neuen Tracks? Nicht viel mehr als ein kaum kaschiertes Lockmittel für das Meer von Klassikern. Gleichwohl keine Alibisongs! Vor allem "Doom & Gloom" überrascht mit einer Aggressivität, die man in solch rockender Schnörkellosigkeit seit 1978 nicht mehr von ihnen kannte.
Um ein wenig Kritik kommt man indes nicht herum. Ein paar Schnitzer hat man sich in der Zusammenstellung durchaus erlaubt. Künstlerisch hochwertige Perlen à la "Sister Morphine" zugunsten solchen B-Seiten-Blechs wie "Dandelion" vor der Türe zu lassen, ist nicht im geringsten nachvollziehbar. Auch dass man sich bei der Repräsentation des gar nicht mal üblen Albums "A Bigger Bang" (2005) auf das schnulzig vor sich hin nölende "Streets Of Love" verlegt, obwohl die Platte späte Perlen wie "Laugh? I Nearly died!" hergäbe, wird wohl auch auf ewig das Geheimnis des kontrollwütigen Sir Michael Philip Jagger aus Dartfort bleiben. So bleibt es wie immer bei: You Can't Always Get What You Want ...
13 Kommentare mit 5 Antworten
Schöne und würdige Rezi zu einem schönen Paket Musik. Wenn ich allerdings nochmal irgendwo das Verbum "oktroiert" (oder, noch schlimmer, "aufoktroiert") lesen muss, krieg ich Brechreiz wie nach drei Instagram-Postings am Stück.
rolling stones sind voll schlecht, sie haben keine guten lieder im gegensatz zu ozzy oder lady gaga
Was für ein dämlicher Kommentar. Du solltest dich was schämen! Ozzy ist Hardrock-Pionier und früher Metalist, Lady Gaga eine Popsängerin mit sozialem Engagement. Kann man doch überhaupt nicht vergleichen.
Vor 9 Jahren
Hey, die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen langsam. Finde es schön, dass Nutzer-46326 doch noch bekommen hat, was er dient. countryguitarboy, Sidekick von Urbanbassman, hat das Richtige getan.
verdient, Edith, verdient!
damit hätten wir diesen Meilenstein jedenfalls erledigt...
und richtig: die aktuelle Single hätte auch schon auf die "sticky fingers" LP gepaßt.
Fein, dass es die Compilation gibt - aber für wen.
Fans haben eh schon alles - und alle anderen sind mit 5 bis 10 Songs des Gesamtrepertoires auch bedient. Also mir reichen die größten Gassenhauer, die Stones haben mich nie so geflasht, dass ich da auch in die Tiefe gehen müsste ...
Fein, dass es die Compilation gibt - aber für wen.
Fans haben eh schon alles - und alle anderen sind mit 5 bis 10 Songs des Gesamtrepertoires auch bedient. Also mir reichen die größten Gassenhauer, die Stones haben mich nie so geflasht, dass ich da auch in die Tiefe gehen müsste ...
"The Sun - The Moon - The Rolling Stones". Alles klar?