laut.de-Kritik
Das Metal-Musical mit Operngesang bietet Realitätsflucht par excellence.
Review von Manuel BergerMan muss wohl ziemlich wahnsinnig sein, um im Zeitalter Spotifys und Co. ein Album zu veröffentlichen, das geschlagene drei Stunden lang ist. Aber Achtung: Urheber Christofer Johnsson sieht dieses Mammutwerk nicht einmal als "the real deal" an, sondern mehr oder weniger als eine Demoversion. Auf die Musicalbühnen dieser Welt möchte er "Beloved Antichrist" bringen und das Opus bitte auch als Bühnenwerk verstanden wissen, als die Therion-Version von "Jesus Christ Superstar", ein Metal-Musical mit Operngesang.
Die Herangehensweise des Hörers ist letztlich auch entscheidend. Als normales Studioalbum betrachtet enttäuscht "Beloved Antichrist". Hooklines und griffige Riffs sind kaum vorhanden, schenkt man der Storyline keine Beachtung, rauscht die Musik einem epischen Zug gleich an dir vorbei. Lässt man sich allerdings von Anfang an auf das Musical- und Opernhafte ein, bieten Therion drei Stunden spannende Unterhaltung und Realitätsflucht par excellence.
Johnsson ordnet die Musik klar dem größeren Ganzen unter – kein Wunder bei 50 Seiten Booklet, voll mit Texten zu 29 verschiedenen Figurenrollen. Lose basierend auf Wladimir Solowjows "Kurze Erzählung vom Antichrist" erzählt er die Geschichte des genialen Seth Thanos (Thomas Vikström) und der Religionsführerin Johanna (Chiara Malvestiti): Von Satan (Erik Rosenius) verführt, erlangt Seth nie gekannte Weisheit und führt die Vereinigten Staaten von Europa in eine bessere Zukunft. Im Zuge dessen verfällt er allerdings auch seiner eigenen Eitelkeit, rebelliert gegen Gott und schafft sich so mit Johanna eine mächtige Feindin.
Therion-Sänger Thomas Vikström als gutwilliger, aber nicht fehlerfreier Seth positioniert sich klar im Zentrum von "Beloved Antichrist". Er agiert sehr variabel, strahlt mal Erhabenheit, mal Neugier, mal Macht aus, gibt sich bisweilen aber auch unsicher und traurig. Dagegen zeichnet Johnsson die Figuren um ihn herum jeweils mit einem besonders stark ausgeprägten Charakterzug. Chiara Malvestiti als Johanna zum Beispiel bleibt über weite Strecken sehr hohem und damit sehr energisch und bestimmt wirkendem Sopran treu. Lori Lewis, die Johannas jüngere, weniger eigenständige und sich vor allem nach Harmonie sehnende Schwester Helena verkörpert, singt weicher und mit viel Wärme in der Stimme.
Musikalisch fangen Therion die Stimmung der jeweiligen Szene ein. Als zum Beispiel der Staatspräsident (Kaj Hagstrand) langsam erkennt, dass er Seth ob dessen Weisheit als Führer der Gesellschaft weichen muss, unterlegt Johnsson das mit unruhigem Bassrhythmus ("Morning Has Broken"). Vor dem inneren Auge wandert der Präsident sinnierend in seiner Kammer auf und ab.
In den allermeisten Fällen beweist der Komponist ein sicheres Händchen, was die Übersetzung solcher Bilder in Noten angeht. Nur manchmal rutscht er in Schablonen ab. So gerät der an sich schicke Einfall, eine Nationalhymne einzuflechten, leider sehr generisch ("Anthem") und Seths Begegnung mit Satan unpassend "Star Wars"-lastig. In an Darth Vader gemahnendem Bass deklariert letzterer in "The Solid Black Beyond" nämlich: "I am your father". Direkt im Anschluss gibts in "The Crowning Of Splendour" John Williams-typische Posaunen zu hören.
Sich bei drei Stunden Spielzeit zu stark auf einzelne Stellen einzuschießen, würde dem Gesamtwerk allerdings nicht gerecht. Zumal Therion neben unvermeidbaren Passagen, in denen die Instrumente nur Beiwerk zur Handlung sind, auch einige echte Highlights einflechten. Eines davon ist der Höhepunkt der Story. Statt effekthascherischem Bombastbombardement steht hierzu ein zartes Duett zwischen Johanna und Seth. Für die Melodieführung zeichnet ausnahmsweise nicht Christofer Johnsson, sondern Christian Vidal verantwortlich. Johnsson greift die Atmosphäre des Stücks allerdings meisterhaft auf und baut sie ebenso wunderschön wie traurig in "To Shine Forever" mit größerer Besetzung weiter aus.
"Beloved Antichrist" ist kein typisches Therion-Album, Therion-Fans dürfte die Band damit aber trotzdem glücklich machen. Die Schweden kredenzen hier immer noch Symphonic Metal, allerdings in einer sehr viel mehr gen Klassik orientierten Art und Weise als bisher. Mastermind Johnsson muss man nach einem intensiven Durchlauf zustimmen: "Beloved Antichrist" ist kein Album, es ist der Soundtrack zu einem Bühnenstück, und man wünscht, es im Theater gesehen zu haben. Der Therion-Boss ist entschlossen, genau das für die Zukunft möglich zu machen. Das könnte noch eine Weile dauern, wird den Aufwand aber (hoffentlich) wert sein.
Noch keine Kommentare