laut.de-Kritik
Feierliches Britpop-Opus des Charlatans-Chefs.
Review von Alexander KrollVielleicht gibt es keinen besseren Ort, um ein opulentes Doppelalbum aufzunehmen, als die Rockfield Studios auf einem Bauernhof im südwalisischen Wye Valley. Dort wo einst Queen ihre extravagante Rockoper "Bohemian Rhapsody" komponiert haben. Wo Oasis der Legende nach eine Steinwand vor dem Studio in eine "Wonderwall" verwandelten. Ja, dort wo Chris Martin eines Nachts aus dem Studio trat, in den weiten Himmel blickte und mit zwei Zeilen den Pop-Himmel aufschloss – "Look at the stars / Look how they shine for you".
Auch der Höhenflug des Madchester-Masterminds Tim Burgess und seiner Band The Charlatans führt Anfang der 90er über die Rockfield-Farm. "Die Isolation hat uns ermöglicht, unsere eigene Welt zu erschaffen", erzählt Burgess in der Doku "Rockfield: The Studio On The Farm". Über mehrere Jahre und Alben entsteht eine Verbundenheit mit Rockfield und dem nahegelegenen Monnow Valley Studio, die allerdings tragisch endet, als Keyboarder Rob Collins im Juli 1996 vor Abschluss der Aufnahmen des fünften Albums "Tellin' Stories" bei einem Autounfall ums Leben kommt.
Nach 25 Jahren wagt Burgess die Rückkehr. Für die Aufnahmen zu seinem sechsten Soloalbum kommt der Pilzkopf aus Manchester wieder nach Rockfield. Zusammen mit dem Keyboarder Thighpaulsandra (Spiritualized, Coil) und dem Multi-Instrumentalisten Daniel O'Sullivan (Ulver, Grumbling Fur) entwirft er eine eindrucksvolle Wundertüte aus Britrock, Dream Pop und elektronischen Verzierungen. Da glänzt viel, ragt einiges heraus und gerät auch mal etwas in Schräglage. Von "Typical Music" allerdings weit und breit keine Spur.
Auf einer hippiesk poetischen Klangreise zwischen Los Angeles und New York, zwischen hellen Gärten, hohen Bergen und dem weiten Meer, entfalten sich verträumte Meditationen. Auf der einen Seite lauert die Einsamkeit, auf der anderen lockt die kosmische Verschmelzung. Da strahlen Lieder vom Werden und vom Vergehen, darunter Erzählungen von Jahreszeiten, besonders vom Sommer. Alles dreht sich um die Zeit: Um Zeitverschiebung, um die Zeit, aufzuhören oder auch um den Wunsch, mehr Zeit miteinander zu verbringen.
All die ambivalenten Gefühls- und Klangwelten bringt Burgess mehrfach auf brillante Nenner. Mit der bittersüßen Energie bester Charlatans-Zeiten lotet er im Singalong-Opener "Here Comes The Weekend" die Chancen einer Fernbeziehung aus. Ähnlich schmerzlich-schön begegnet "Time That We Call Time" der prekären Weltlage mit einem Balanceakt zwischen akustischem Gospel-Choral und elektronischer Hot Chip-Kontemplation. "After This" erhebt sich über federleichte Beatles-Harmonien, galaktische Bowie-Fantasien und wilde Psychedelia-Experimente zu einer großen Feier auf das Leben und die Liebe ("It's such a wondrous prize / Just to be here being alive / And we'll start it with a kiss / There’s a future / There’s a future after this").
"Typical Music" liefert laute und stille Highlights. Auf der lauten Seite geht der sonnig rockige Titeltrack mit gutem Beispiel voran. "A Bloody Nose" legt noch eine Schippe drauf und hätte mit seinem dreckigen Gitarrendrive und herrlich bizzaren Lyrics gut auf Blurs selbstbetitelte Indierock-Attacke von 1997 gepasst. "Slacker (Than I've Ever Been)" steigert sich in einen euphorischen Rausch, indem es Noise- und Spacerock an zuckersüße Pop-Melodien koppelt.
Mit ruhigeren Klängen besticht besonders die zweite Seite des Doppelalbums. Als ambitionierter Einstieg in den zweiten Akt präsentiert "Magic Rising" eine ekstatische Soul-Pop-Fusion ("I’m Hypnotized / Discretely / But now I’m yours completely"). In einem sanften Folkpop-Arrangement erstrahlt "In May" als unwiderstehliche Reverie des Übergangs vom Frühling zum Sommer ("Will we be the same in June? / I don’t care in May / We sit, thinking about last summer / We met last summer / Our perfect summer"). Und die Twee-Chansons "A Quarter To Eight" und "Sure Enough" hätten selbst Belle and Sebastian nicht besser hinbekommen.
In die Fülle der 22 Tracks reihen sich auch Ausrutscher ein. Sei es die überkandidelte Synthesizer-Eskapade "Curiosity", der chaotische Western-Trip "Sooner Than Yesterday" oder der ungelenke Epilog "What’s Meant For You Won’t Pass By You". Doch selbst in den schwächeren Songs stecken derart viele Ideen und Geschichten, dass fortwährend die Frage auftaucht, was alles damals passiert sein könnte während der Aufnahmen in den legendären Rockfield Studios.
2 Kommentare
Meilenstein für Parachutes wann?
Schönes Ding, entspannt und durchgeknallt. Was immer der da genommen hat, ich hätte gerne das gleiche!