laut.de-Kritik

Das Gothic-Meisterwerk vereint Mystik mit Humor und Erotik.

Review von

Der Begriff Gothic Metal ist über die Jahre mehr und mehr in Verruf gekommen. Schlager-Scharlatane und künstlerische Dünnbrettbohrer haben die ehemals stolze Kogge zum clownesken Epigonenwrack havariert. Doch wie so oft, wenn Stümper die Revolution übernehmen, gerät darüber fast in Vergessenheit, wie künstlerisch und kompromisslos die Geburtsstunde des Genres einst war.

Sicherlich gab es viele hochkarätige Mutterbands; Paradise Lost, My Dying Bride oder etwa Tiamat. Doch nur eine Combo der frühen Tage verarbeitete Mystik, Humor und Erotik mit beinharter Provokation und handwerklichem Können: Type O Negative auf ihrem ewigen Meisterwerk "Bloody Kisses".

Kein anderes Album einer ähnlich gelagerten Band vermählt so schaurig schön Keyboardteppiche mit Metal-Drums. Das Fundament, das Tastenmann und Coproducer Josh Silver mit Fellbarbar Sal Abruscato den Gefährten gießt, ist Grundstein jeder Type O'schen Atmosphäre. Von dunkel-lasziv über Industrial bis hin zu Hardcore-Überbleibseln reicht die bunte und in jeder Hinsicht souverän ausgereizte Farbpalette des Wahnsinns. Der spätere Weggang Abruscatos zu Life Of Agony konnte nie vollkommen kompensiert werden.

Was auf dieser Platte so schön zusammen gehört, skalpiert regelmäßig die Gibson Flying V von Kenneth Shaun Hickey, dem Kindheitsfreund aus der Nachbarschaft. Dennoch: dies alles wäre wenig mehr als ein Nichts ohne den schelmischen Höllenfürsten Pete Steele. Ein bleicher Zweimeter-Hüne, gesegnet mit einer Stimme, die den Hörer nach Belieben ebenso umgarnt wie schockgefriert. In der ewigen Hall of Fame aller Düstermänner behauptet er sich lässig zwischen Charismatikern wie Andrew Eldritch, David Tibet oder Carl McCoy.

Auch die rhythmische Begabung des New Yorkers aus dem desperadohaft klingenden Stadtteil Red Hook ist auf diesem Album nicht zu überhören. Sein tiefschwarzer Bass zermürbt das Ohr wie ein herunter gedoomter Dentalbohrer. Ein Folterinstrument, das unerwartet großen Spaß bereitet. Der besonders live bis zum Bersten verzerrte Sound ist seiner Zeit um Längen voraus. Zwischen wellenartiger slow motion und wilder Eruption scheint er mit seinen meist selbst verfassten Songs beinahe zu kopulieren. Die Komposition als Konkubine? Kein Widerspruch für den selbst ernannten "Teilzeit-Erotomanen".

Den Songs selbst tut die gelegentlich manische Natur ihres Schöpfers gut. "Kill All The White People" (samt einem herrlich trashigen Phil Anselmo) und "We Hate Everyone" verbinden die derben Metal- und Core-Wurzeln seiner Anfangstage mit Zeilen zwischen Selbstironie und scharfem Sarkasmus. Beide Lieder machen sich offenherzig lustig über die zahllosen Reichsbedenkenträger, die der Band voreilig offenen Rassismus und Nazitum unterstellten. Allzu oft missverstand man damals den Sarkasten Steele als menschenverachtenden Zyniker. Dies ging u.a. zurück auf die Lyrics seiner Vorband Carnivore. Sie waren eine Sammlung derb formulierter Ironie, neben der kalkulierte Skandalreiter wie Eminem aussehen wie picklige Hinterhofpennäler.

Bemerkenswert unbeeindruckt von diesem medial geschürten Theater lässt Steele neben den Knochenkloppern hier erstmals auch Gefühle heraus. Die mit Trauerflor gedimmte Romantik des ehemaligen 70er Nervtöters "Summer Breeze" (Seals & Croft) beschert uns den ersten und bis dato einzigen doomy Feelgood-Song für alle Gelegenheiten. Der opulente Titeltrack "Bloody Kisses (A Death in the Family)" umhüllt den Lauschenden dagegen unentrinnbar wie eine jener Depressionen, unter denen der Frontman zeitlebens litt. Großartig, mit welcher Inbrunst der gebürtige Peter Thomas Ratajcyk die innere Hölle in anmutige Melancholie verwandelt. Eine Prise Beatles-Hommage hie und da zieht sich dazu als roter Faden durch die gesamte LP.

Steeles Geheimwaffe ist es dabei, beinahe kitschige Zutaten aus der Mystery-Ecke mit unfassbar hypnotischer Aura zum anmutigen Monument zu stilisieren. Genau aus diesem Grund funktionieren die beiden einsamen Höhepunkte der gesamten Musikrichtung auch nach 20 Jahren noch so taufrisch wie am ersten Tag. Sie heißen "Christian Woman" und "Black No.1 (Little Miss Scare-All)".

"Ein Kreuz an ihrer Schlafzimmerwand. Sie wird in Ungnade fallen. Denn es brennt ein Bild in ihren Gedanken und zwischen ihren Schenkeln", haucht Steele aufreizend. Nebenbei befreit er den christlichen Heilsbringer und die Seinen von aller klerikal frustrierten Lustfeindlichkeit. "Sie möchte ihren Gott in sich spüren ... Tief in sich" In Europa minus Bayern bemerkte man nach und nach den Eulenspiegel in Steele. In weiten Teilen der Staaten hingegen hat der Song leider bis heute nichts von seinem Ketzerpotential zwischen C. Manson und M. Manson eingebüßt.

Musikalisch ist das Lied ein Triumph der Ästhetik über das Klischee. Vielschichtig, wuchtig und melodisch. Gekrönt von Steeles verschwitztem Lehrstück in Sachen Phrasierung. Seine höchst individuellen Bassvocals sind Lichtjahre fort von oft verbreiteter Stumpfheit. Tiefgründig und variabel lotet er Range und Tempo in knapp zehn Minuten komplett aus. Brillant, wie Silvers Blutorgel im letzten Teil die Gesangslinie unterstreicht, nur um alsbald wieder im Nebel zu verschwinden.

Die "Schwarze Nummer Eins" entpuppt sich hernach übergangslos als das konzeptionelle Gegenteil: eine autobiografische Teufelsbraut Steeles. Die Besungene hatte es ihm kurzzeitig angetan. Entsprechend gering fällt der Ironiefaktor aus. Begierde, sogar ungewohnte Zärtlichkeit würzen den schwarzen Sabbath samt Werwolfskult und Nosferatu. Unerreicht, wie er textlich elegant bleibt, um rein musikalisch eine Art Pornogothmetal zu zelebrieren, der auf Partys Mensch und Tier unterschiedlichster Geschmäcker bzw. Geschlechter miteinander vereint. Das funktioniert heute als diabolischer Kracher noch so gut wie anno 1993. Probiert es nur aus.

Doch so groß das empfundene Glücksgefühl über diese blutigen Küsse ein jedes Mal ist - mit dem verregneten Beerdigungsausklang von "Black No 1" wird mir schmerzhaft bewusst, dass der mehrheitlich verkannte Künstler am 4. Januar dieses Jahres 50 geworden wäre. Doch sein großes, schwaches Herz hörte bereits am 14. April 2010 auf zu schlagen. Keine Alben mehr; keine Gigs; keine einzige Note; nie wieder. Mit Pete Steele hat die Musikwelt einen der letzten grandiosen Provokateure ohne Rücksicht auf Showbiz und eigene Blessuren verloren. In der Goth- und Metal-Szene behält er dafür das letzte Wort. "And end this night - this, the end of life."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Machine Screw
  2. 2. Christian Woman
  3. 3. Black No.1 (Little Miss Scare-All)
  4. 4. Fay Wray Come Out And Play
  5. 5. Kill All The White People
  6. 6. Summer Breeze
  7. 7. Set Me On Fire
  8. 8. Dark Side of the Womb
  9. 9. We Hate Everyone
  10. 10. Bloody Kisses (A Death in the Family)
  11. 11. 3.0.I.F.
  12. 12. Too Late: Frozen
  13. 13. Blood & Fire
  14. 14. Can't Lose You

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LAUT.DE-PORTRÄT Type O Negative

Schon zu Zeiten seiner alten Band Carnivore hat Peter Steele (Bass/Gesang) sehr genaue Vorstellungen sowohl vom Sound als auch von Outfit seiner Truppe.

33 Kommentare mit 2 Antworten

  • Vor 12 Jahren

    Eins der 10 besten (Metal)-Alben der 90er Jahre.

    Inzwischen hat es zwar ein wenig Staub angesetzt, kann man aber trotzdem noch superb durchhören.

  • Vor 12 Jahren

    Lieber Anwalt, endlich! Vielen, vielen Dank und Cheers! :alk:
    Eine wundervolle Rezi für einen wahrhaftigen Meilenstein.
    Oh, und eine kleine Klugscheißerei am Rande: Die Album-Version von Summer Breeze ist übrigens nicht die ursprüngliche beabsichtigte. Steele hatte eine Version namens Summer Girl mit alternativem Text (Kenny Hickey lying on the sidewalk / Devil music from the house next door / So I step on over his vomit / Through the screen and across the floor) geschrieben, aber die war Seals Croft zu anstößig. Deswegen entschied man sich für ein normales Cover. Summer Girl existiert aber trotzdem und hätte das Album wahrscheinlich perfekt gemacht.
    http://www.youtube.com/watch?v=MmE_Zek4e1o

  • Vor 12 Jahren

    cool, ich mag Type O :)
    zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich DIESES Album nicht hab. Kann man aber nachholen. Auf jeden Fall les ich mir die Rezi heut abend in Ruhe durch.