laut.de-Kritik

Einschneidende Platte für alle Arten von Sprechgesang.

Review von

"The Tide Is High" - das kennen viele als Nummer Eins-Hit, ob von Atomic Kitten oder Blondie. Es stammt von einer uralten LP, "Version Galore". Sie vereint den hochwertigen Analog-Klang des guten, alten Jamaika-Sounds der Sixties mit einem Vorgriff auf späteren Rap, Dancehall, Ragga, Euro-House, Jungle und Grime. U-Roy wendet dabei einen denkbar einfachen Kniff an: Er redet in MC-Stil über die orchestrierten und gesungenen Nummern verschiedener Gruppen. 1971 erschien die Platte und revolutionierte den Grenzverlauf zwischen Singen und Sprechen. Der junge Shooting-Star Koffee gibt an, sich am 'Sing-Jay' U-Roy orientiert zu haben.

Knapp ein Jahr nach U-Roys Tod liegt sein Debüt nun wieder als frische Vinylpressung von Trojan sowie in einer ausführlichen Doppel-CD mit 41 Tracks vom Label Doctor Bird vor. Enthalten auf den Silberlingen sind sogar die ersten beiden Alben "Version Galore" und "U-Roy" (1974), zahlreiche alternative Fassungen und Raritäten aus verstreuten Singles. An Bord: Die seinerzeit schwer angesagten mehrstimmigen Vokal-Ensembles The Paragons, The Melodians (später recycelt von UB40, Mr President, Boney M. etc.), The Techniques, The Tree Tops, The Jamaicans, The Silvertones. Alles Herrenchöre mit Orchester. Aber auch ein paar brillante Solisten der Rocksteady-Ära geben den Ton auf einzelnen Tracks an, so der Grandfather dieses Stils, Alton Ellis und die romantische Liebes-Reggae-Soulerin Phyllis Dillon. Der Glanz ist groß.

"Version Galore" und der Nachfolger bieten Hits! "Tom Drunk (+ Hopeton Lewis)" etwa entwickelte sich zum Klassiker auf Retro-Abenden mit Kult-Ska und Rocksteady, bekannt als das Lied über die Gans, die das goldene Ei legt ("Don't Kill The Goose That Lays The Golden Egg"), ein Idiom, das genau U-Roys Humor spiegelt. Der Track basiert auf einem Sample aus den Reggae-Anfangstagen, wurde seinerseits immer wieder gesampelt, etwa von Mos Def und von Buju Banton.

Verselbständigt hat sich auch der von U-Roy erfundene Spruch "Wake the town / tell the people", den wir heute aus der Hit-Edit von Dawn Penns "No, No, No" kennen. Der Sing-Jay arbeitete als DJ mit großen Boxen-Anlagen, war einer der Prototypen der Soundsystem-Culture. Für seine Auftritte bei Tanzveranstaltungen heizte er dem Publikum schon in den Sechzigern als MC ein und posaunte prägnante Sprüche über die rotierenden Rocksteady-Fortyfives. Für Dawns Hit 1994, immerhin einen der größten jemals aus Jamaika, verschmolzen die Producer Steely & Cleevie einen alten Bo Diddley-Blues mit U-Roys gesprochenem Intro; in der Folge sampelten das wiederum Rihanna, Lily Allen, Beyoncé, viele weitere.

Hinter "You Will Never Get Away (+ The Melodians)" verbirgt sich eine Anlehnung an den DooWop-Soul aus dem Big Apple der späten 50er. Hört man's heute, muss man unweigerlich ans Writer-Duo Carole King & Gerry Goffin, denken, an die ganz frühen Simon & Garfunkel (Tom & Jerry), auch an Roy Orbison, Sam Cooke und Dion. Aber: Nur, bis U-Roy sein 'Toasting' beginnt und die liebliche Stimmung bricht. The Melodians waren ein nostalgisches Trio auf der Karibikinsel, das im Grunde wie alte US-Musik klang. Um tanzbaren Schliff einzuschmuggeln, peppte Ewart 'U-Roy' Beckford etliche Nummern auf, so das titelgebende "Version Galore (+ The Melodians)".

Auch der euphorisch überdrehte, dem Namen The Melodians Ehre machende melodiöse Orgel-Groover "Do Re Mi" lässt sich auf der neuen Compilation im großzügigen Pool der wohltönenden Bonus Tracks aufspüren. Extra cool: Die Instrumental-Version "Tommy McCook - Super Boss". Der war Saxophonist - und wer Saxophon-Sounds liebt, kommt vom ersten Ton an ("Your Ace From Space") voll auf seine Kosten. Der Sänger John Holt verdankt seine lange Karriere letztlich dem Umstand, dass U-Roy den Reiz der Riffs und Harmonien im damals schon ein paar Jahre alten "Tide Is High (+ The Paragons)", "Wear You To The Ball (+ The Paragons)" und anderen Trio-Songs erkannte. Und Holts zarte Stimme mit MC-Gekläffe kontrastierte.

Als Sprücheklopper stolperte U-Roy recht ungeplant in die Tonstudios. Er wusste anfangs nicht, was da auf ihn zukommt. "At this stop / it's hot top" oder "This station rules the nation with version", solche saloppen Parolen kamen gut an ("Hot Top", "This Station Rule The Nation (+ Tommy McCook)").

Zum überaus witzigen Storyteller reifte er erst später an der Seite seiner kongenialen Bands Skin, Flesh & Bones und The Soul Syndicate, später mit Sly & Robbie und einem Who's Who an Background-Sängern, darunter Freddie McGregor und Horace Andy, bis er in Europa seinen Meister fand und mit Mad Professor verspulten, abgefahrenen Tech-Dub aufnahm, bis zu seinem Tod. U-Roys letztes Werk entstand mit Lee Perry und den Wailers 2020.

Wer die Musik des smarten Toasting-Pioniers aus Kingston posthum sichten will, wird mit einem ansprechenden kleinen Nachruf-Booklet samt Archiv-Fotos und mit mehreren sehr attraktiven Instrumentals versorgt. Der organische Klang dieses Deluxe-Sets tönt angenehm. Man erhält Schmachtfetzen wie "True, True (+ Ken Parker)", "Flashing My Whip (+ The Paragons)", Raritäten wie "Do It Right (+ The Three Tops)", zündenden Zungenbrecher-Spoken Word im "Treasure Isle Skank", herausragenden Country-Reggae ("Drive Her Home (+ Hopeton Lewis)"), Edel-R & B ("Don't Stay Away (+ Phyllis Dillon)" und Bläsersatz-Prunkstücke wie "Ain't That Loving You (+ Alton Ellis)".

Die Bedeutung des Gastgebers für die Musikhistorie ist unfassbar riesig: Denn er nahm das MC'ing bei den ersten Hip Hop-Partys in New York vorweg, das Shouten auf eine laufende Vinyl. Ebenso die spätere Zweiteilung in Gesangs- und Rap-Parts im Eurodance und Ragga-House. So wurde er als Laie zum Vorbild für eine ganze Generation karibischer Dancehaller, lieferte die Blaupause für Spoken Word-Dub und sendete starke Impulse in Londons Elektronik-Szene. Rest in peace, U-Roy!

Trackliste

CD1

  1. 1. Your Ace From Space
  2. 2. On The Beach (+ The Paragons)
  3. 3. Version Galore (+ The Melodians)
  4. 4. True Confession (+ The Silvertones)
  5. 5. Tide Is High (+ The Paragons)
  6. 6. Things You Love (+ The Jamaicans)
  7. 7. The Same Song (+ The Paragons)
  8. 8. Happy Go Lucky Girl (+ The Paragons)
  9. 9. You Will Never Get Away (+ The Melodians)
  10. 10. Wear You To The Ball (+ The Paragons)
  11. 11. Don't Stay Away (+ Phyllis Dillon)
  12. 12. Hot Pop (+ Tommy McCook)

Bonus Tracks CD 1

  1. 1. Tommy McCook - Nehru
  2. 2. True, True (+ Ken Parker)
  3. 3. Wake The Town [Take 2] (+ The Paragons)
  4. 4. Flashing My Whip (+ The Paragons)
  5. 5. Earl Lindo - The Ball
  6. 6. Do It Right (+ The Three Tops)
  7. 7. Ain't That Loving You [Alt. Take] (+ Alton Ellis)
  8. 8. Do Re Mi (+ The Melodians)
  9. 9. Tommy McCook - Super Boss

CD2

  1. 1. Honey Come Forward
  2. 2. Treasure Isle Skank
  3. 3. This Station Rule The Nation (+ Tommy McCook)
  4. 4. Drive Her Home (+ Hopeton Lewis)
  5. 5. Tom Drunk (+ Hopeton Lewis)
  6. 6. Words Of Wisdom (+ Tommy McCook)
  7. 7. The Merry Go Round
  8. 8. Wake The Town (+ The Paragons)
  9. 9. Big Boy And Teacher
  10. 10. Everybody Bawling (+ The Melodians)
  11. 11. Ain't That Loving You (+ Alton Ellis)
  12. 12. Behold (+ Tommy McCook)
  13. 13. Wy Back Home (+ Tommy McCook)
  14. 14. My Girl (+ The Techniques)
  15. 15. Tommy McCook - My Girl Version
  16. 16. Peace And Love (+ The Jamaicans)
  17. 17. Tommy McCook - Peace And Love Version
  18. 18. Tommy McCook - Drive Her Home Part Two
  19. 19. You Will Never Get Away [Take 5] (+ The Melodians)
  20. 20. Wake The Town (+ The Paragons)

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