laut.de-Kritik
Benefiz-HipHop in komplett unpeinlich.
Review von Dani FrommSelten wurde einem die tägliche gute Tat leichter gemacht: Der Erlös dieses Samplers fließt in die Arbeit des Kinderhilfswerks ARCHE, das zumindest einigen der geschätzt über zwei Millionen Kinder, die in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, neben warmen Mahlzeiten ein offenes Ohr und eine Perspektive geben will.
Der Soundtrack zu den gleichnamigen Büchern von Wolfgang Büscher und Bernd Siggelkow, die Betroffenen zuhörten und ihre Berichte protokollierten, erweist sich allerdings als weit mehr als bloß ein ambitioniertes Wohltätigkeitsprojekt. "Uns war es sehr wichtig, die komplette Bandbreite von Rap abzubilden", betont Jan Pasutti, der maßgeblich an der Zusammenstellung mitwirkte und zudem für das Booklet über die Schicksale beteiligter Künstler schrieb.
Mission erfüllt. Mit knapp 50 Tracks und nahezu doppelt so vielen Beteiligten wird "Deutschlands Vergessene Kinder" den nach erheblichem Presserummel im Vorfeld hoch gesteckten Erwartungen mühelos gerecht. Dieses Projekt stellt tatsächlich vieles bisher Dagewesene in den Schatten.
Der Sampler rückt eine Tatsache in gleißendes Licht, die Fans zwar bekannt, der breiten Öffentlichkeit infolge einseitiger Berichterstattung jedoch viel zu häufig verborgen bleibt: Hip Hop umfasst weit mehr als Gangster- oder Porno-Rap und dreht sich keineswegs nur um Knarren, Titten und Bling-Bling. Für diese überfällige Richtigstellung gebührt den Kompilatören das erste Lob.
Das nächste gibt es für das Kunststück, ein Treffen einer Vielzahl von Akteuren aus fast ebenso vielen unterschiedlichen Nischen des Genres nicht wie einen wahllos zusammengewürfelten Haufen wirken zu lassen. Statt dessen zieht sich die Thematik, die einigen der beteiligten Künstler erschreckend vertraut ist und allen miteinander hörbar nahe geht, wie ein roter Faden durch beide CDs.
Wer jetzt glaubt, sich mit "Deutschlands Vergessene Kinder" zweieinhalb Stunden weinerliche Betroffenheit ins Haus zu holen, könnte sich nicht derber geschnitten haben. Erschütternden Geschichten von gebrochenen Flügeln und geraubten Phantasien (Taichi, "Rettet Mich"), von Missbrauch, Drogensucht, Vernachlässigung, Gewalt und Amoklauf (F.R., "Kinder Dieser Welt"), von ebenso kranken wie realitätsnahen Szenarien (Kool Savas ft. Alex Price, "Krank") stehen Optimismus, Spaß, Lebensfreude und Ironie gegenüber.
Der Feinfühligkeit der Arrangeure ist zu danken, dass es nie pietätlos, sondern höchst passend wirkt, wenn nach dem Blick in F.R.s Abgründe Hecklah & Coch Seite an Seite mit Pal One über einer funky Bass- und Drum-Kombination die Durchhalteparole "Bleib Hart" ausgeben, nur um von einem wahrhaft comic-tauglichen Herrn Von Grau abgelöst zu werden, der zu minimalistischen Tönen vor der vermutlich wenig begeisterten "Mama" seine Zukunftspläne ausbreitet.
Deso Dogg prahlt in "Der Große Und Der Kleine" gegenüber MC Rex nicht etwa mit seinen höchst realen Knasterfahrungen, sondern führt diese als warnendes Beispiel ins Feld. Ein grandios durchgeknallter Dissput berichtet über eine Kindheit ohne Vater, wobei die Synthieflächen den Wahnsinn in der Stimme noch unterstreichen.
Während Culcha Candela die Partystimmung diesmal im Schrank lassen und nachdenklich die Story vom Verlust des eben erst gefundenen Familienmitglieds ausbreiten ("Tara"), peitscht Frauenarzt die "Children Of The New World" zu einem Brett von einem Techno-Beat auf die Tanzfläche, ohne dabei allzu viel Gedanken an Inhalte zu verschwenden. D-Flame dagegen betreibt mit bekannt unikater Stimme Ursachenforschung und beklagt die "Neuzeitsklaverei".
Die musikalische Seite gerät mindestens so facettenreich. Von finsteren Szenarien mit Sirenen und tickenden Hi-Hats (B-Lash, "Wargame") und dunklen, breitflächigen Synthies über die erprobt-melancholische Streicher-Piano-Allianz, einer von Akustikgitarre begleiteten Liebeserklärung an die eigene Tochter (Muddi, "Dir Lisa"), Chefkets soulig-melodischem "Blindem Gärtner" bis hin zu herrlich schrägen Bläsern (Pan & Artist, "Egal") ist alles drin.
Klimpernde Spieluhren (Deso Dogg ft. MC Rex, "Der Große Und Der Kleine"), ein orientalischer Einschlag (Mila ft. Emine Bahar, "Ihr Seid Mein Ein Und Alles"), Klingeln, Claps, Rap, Gesang ... die Vielfalt kennt, wie Hip Hop selbst, keine Grenzen. Im fluffig-fröhlichen Zirkusgefühl, mit dem Creme 21 ihre "Niedertracht" verbrämen, entdeckt der Fachmann sogar andalusische Kadenzen - und ich hab' wieder was gelernt.
Die deftigste Lektion von allen erteilt mir allerdings Joe Rilla - zugegeben nicht gerade der Typ, von dem ich den berührendsten, Gänsehaut erzeugendsten und weisesten Track von allen erwartet hätte. "Klar seid ihr ein Vorbild für die Kids aus der Unterschicht / Wen haben sie denn, wenn Mama säuft und Papa abgehauen ist?"
Angesichts der schallenden Watsche, die Rilla zusammen mit Abroo und Hammer denjenigen Kollegen erteilt, die sich aus der Verantwortung zu stehlen versuchen, werde ich meine eigenen Vorurteile dringend überdenken müssen. Einstweilen setze ich meinen Namen neben den Hagen Stolls unter sein mit Recht stinkwütendes Traktat "Unsere Kinder" und hoffe, die hier gestreute Saat möge im Sinne Deutschlands vergessener Kinder üppig aufgehen.
4 Kommentare
Hört sich gut an, bin gespannt.
Sowas verdient Unterstützung.
Ob ichs mir kaufe, weiß ich zwar noch nicht, aber ich werds mir aus Prinzip nicht laden.
Ist momentan "Geiler-Artikel-Zeit" bei laut.de? kann echt so bleiben
werde mir die scheibe definitiv kaufen, auch in dem wissen, dass mir ein grossteil nicht gefallen wird. sowas verdient naemlich respekt und unterstuetzung.