laut.de-Kritik
Voilà, so war das Frankreich vor Amélie.
Review von Michael SchuhVive la comercialisation, es lebe das Marketing! Selten wurde uns eindrücklicher vor Augen geführt, mit welch plakativen Mitteln Plattenfirmen heutzutage um die Gunst der Käufer buhlen, als beim Titel der vorliegenden Compilation. Es geschah vor gut einem Jahr, pünktlich zum Hype um den Komponisten Yann Tiersen, der dank des Kino-Erfolgs "Die fabelhafte Welt der Amélie" zu Frankreichs neuem Heilsbringer empor stieg, da erschien der erste Teil der Sampler-Reihe.
Der gewählte Titel hatte dabei natürlich nur eine Funktion: den durch Amélies Wimpernschlag-Charme schier erblindeten Kinobesuchern einzutrichtern, dass es auch mal eine fabelhafte Tradition des französischen Chanson gegeben hat ... Naja, wenigstens trifft das ja zu: Mit France Gall, Brigitte Bardot und Co. wühlte der Vorgänger bereits ausgiebig in der Vergangenheit, Teil Zwei featuret nun auch Chansonniers der jungen Garde.
Da darf natürlich der Mann des Augenblicks nicht fehlen: Benjamin Biolay, der Star des Nouvelle Chanson, ohne den derzeit selbst im deutschen Feuilleton kein Artikel auskommt. Das melancholische "Novembre toute l'année" aus seinem empfehlenswerten Debütalbum "Rose Kennedy" (2001) entführt den Hörer tatsächlich in eine fabelhafte, wenngleich bleischwere Chanson-Welt.
Auch die geschlechtsundurchsichtigen Enzo Enzo und Katerine gehören dem Nachwuchs an: Enzo Enzo ist nämlich ein weibliches Geschöpf, deren zartes Stimmchen lieblich über das jazzige "Juste quelqu'un de bien" federt, hinter Katerine verbirgt sich Monsieur Philippe Katerine und der mag es ähnlich schwermütig wie Biolay.
Eingebettet sind die jungen Wilden jedoch wieder in eine Armada an Altstars: Serge Gainsbourg brummt in Hochform über Beziehungskisten, Jacques Brel serviert mit "Les prénoms de Paris" (1961) ein über jeden Zweifel erhabenes, klassisches Stück Chanson, in dem er die Atmosphäre einzelner Pariser Stadtteile rezipiert und der agile Kontrabass-Lauf in Yves Montands "L'étrangère" ruft die Simpsons-Titelmelodie in Erinnerung.
Insgesamt ist die zweite Chanson-Vorstellung eine schöne Ergänzung zu den beiden "French Cuts"-Compilations, bei denen der 60s Pop-Einschlag stärker im Vordergrund steht. Mit dem alten Existenzialisten-Intimus Boris Vian und der Gainsbourg-Muse Jane Birkin ("Ex-Fan des sixties" - grandioser Text!) sind aber auch hier zwei sehr charmante Popnummern vertreten.
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