laut.de-Kritik
Tolle Orgel-Riffs, historische Akribie und Hippies mit Härte.
Review von Philipp KauseMitte August, Sommerloch. Major-Plattenfirmen und MTV überschlagen sich in der Würdigung des 50. Hip Hop-Geburtstages unter größtmöglicher Auslassung des Frauenanteils an dieser Kulturgeschichte. Eine gute, repräsentative Compilation zu diesem Jahrestag ist schwer zu finden. Doch ein anderer Tag, der alle paar Jahre Mitte August begangen wird, kennt so einige gute History-Sampler. Flowerpower und Polit-Folk trafen in Woodstock auf psychedelische Zustände im Publikum und psychedelische Gitarrenriffs auf der Bühne. Dem Ereignis 1969 gingen aber nicht nur die '68er-Revolten, sondern schon bedeutende musikalische und gesellschaftliche Strömungen 1966/67 voraus, in den USA speziell das legendäre Monterey Pop-Festival 1967. Wobei Populärmusik und Society selten so krass und so stark wechselseitig pulsierend miteinander verbunden waren.
Welche Musik speziell in den USA dabei prägend war, zeigt der beste Sampler, der mir in den letzten zwölf Jahren in egal welchem Genre vorgelegt wurde: "March Of The Flower Children: The American Sounds Of 1967", ein Edelstein-Paket in Form von drei silbernen Scheiben und einem Booklet von fast 50 Seiten, profunde zusammen gestellt, mit schöner Musik, ausnahmslos schön oder zumindest in ihrer Machart (und nicht nur historisch) interessant. Auch hier fehlen übrigens Frauen komplett, was aber in dem Fall wohl halbwegs der Szene geschildert war und einigermaßen dokumentarisch getreu ist. Aber auch da gäb's sehr relevante Ausnahmen (Nancy Sinatra, Grace Slick). Abgesehen davon muss vor allem eine Bedingung erfüllt sein, um diese Compilation sofort zu lieben: Man sollte Orgeln mögen. Hart wird's, wenn diese alten Keyboard-Kästen mit verwaschenem Sound damals nur noch Schlieren ziehen und einen Derwisch-Tanz aufführen wie bei den "Blues Magoos - Pipe Dream".
Auch nicht verkehrt wäre, wenn man "Revolver" toll findet, denn diese Sammlung ist der Ära gemäß vorwiegend psychedelisch durchtränkt. In entsprechende Ästhetik eingekleidet, erkennt man Arethas Hit "Respect" praktisch kaum wieder, wär da nicht der Text im Gekeife von "The Vagrants - Respect". Wo der Hip Hop schon Eingangs erwähnt ist: Klein ist die Welt, und dieser wilde Organist, Jerry Storch, ließ das Hauen in die Tasten in der Familie: Sein Sohn ist der erste Keyboarder der Roots, der mit Erykah den Song "You Got Me" verantwortete und danach eine lange Hit-Strecke hin legte, zuletzt bei Kollegah in "Löwe" auftauchte.
Das meiste Material ist sehr eingängig. Und so sehr die meisten Bands spleenige Umwege bespielen, die Songs springen einen sehr direkt an - bitte einsteigen in die Zeitkapsel!
Mit wichtigen Bands, viertrangig bekannten Songs dieser VIPs, aber auch extrem vielen Underground-Tipps, die aber nicht mit exzentrischer Nerdigkeit punkten, sondern im Herzen der Bewegung eine Rolle spielten. Es gibt keinen einzigen Hit hier drauf, der bekannteste Song dürfte noch der letzte in der Tracklist von 85 Stücken sein, "The First Edition - Just Dropped In (To See What Condition My Condition Was In)", von der ersten Band des späteren Countrypop-Stars Kenny Rogers, oder "The Young Rascals - Groovin' (Single Version)".
Um inmitten von 85 (traumhaft guten) Tracks ein bisschen Orientierung zu gewinnen, folgende Anspieltipps: "The Zakary Tanks - Mirror Of Yesterday", "The Zodiac - Aries", das hat ein scharfes Orgel-Intro, Zauberspruch-artige Spoken Word-Passagen, "lost in smoke, vehementeste Trommelschläge, Anklänge von Ravi Shankar. Der Lennon-Freund und Storyteller "Nilsson - 1941" bringt eine eigene Spielart rein. Sehr, sehr gut performen "The Chambers Brothers - Time Has Come Today".
"The Seeds - March Of The Flower Children (Single Version)" baut Stromstöße oder kleine Explosiönchen ein, dazu meldet sich kontrastreich der allerlieblichste Gesang. Im Vergleich schneiden altgediente(re) Gruppen anno '67, The Byrds oder The Everly Brothers, mit den konventionellsten Beiträgen weniger gut ab.
The Rare Breed wussten wohl schon, dass ihre Musik mal sehr rar sein würde. Sie faszinieren mit einem schicken und soundtechnisch großartig eingefangenen Bass-Leitmotiv. Dazu gleitet ein Orgel-Flow. Der hört sich so süß an, dass man die Hammond am liebsten gleich knuddeln würde und sich rein musikmarkttechnisch wünscht, doch in dieser Zeitspanne gelebt zu haben. "The Rare Breed - I Talk To The Sun" ist ein Zwiegespräch mit der Sonne, und was sie liebestechnisch rät - für damalige Verhältnisse absolut kein abgefahrener Text.
Ausflüge statt in der "Penny Lane" in der "Penny Arcade" mit Luftballons, Händchen haltend, mit Klarinette, Teen-Pop war damals musikalisch mitunter anspruchsvoll und an Klassik angelehnt - und im Umkehrschluss zu der allgemeinen Annahme, man habe sich zwischen Liverpool, Leeds und London alles von Amerika abgelauscht, finden sich einige US-Kopien britischer Beatpop-Stilistik.
"The Rose Garden - Next Plane To London" spricht diese England-Sehnsucht ganz direkt an und fiebert dem nächsten Flug nach Heathrow entgegen. In den Worten des Booklets, wo auf mehrere Liedtitel angespielt wird "Tatsächlich erreichte der 'March of the Flower Children' sein Crescendo während des so genannten Summer of Love von 1967, als San Francisco das neue Liverpool wurde und die westliche Welt endlos 'groovin' on a sunny afternoon' war, 'gentle people flowers in their hair' trugen und proklamiert wurde: 'all you needed was love'."
Vielleicht dann doch noch mehr Handfestes außer Liebesschwüren: Wie viel LSD wohl für die Aufnahme von "NGC-4594 - Going Home" eingeworfen wurde? "crazy games with dollars and cents sagt das Stück den Kampf an, aber ziemlich cheesy eingelullt wirken dazu die Musiker. Besonders sweet klingen die kompakten und kurzweiligen Mini-Garage-Nuggets von je zwei Minuten Dauer: "Thursday's Children - Help, Murder, Police".
Herausragend an der umfassenden CD-Box, die gerade so die richtige Länge hat, so richtig herausragend ist ihr Genre-übergreifendes weitwinkliges Verständnis von dieser Musik des Jahres 1967. Es geht straight um das, was für jenes Jahr neuartig, progressiv, kennzeichnend war, verhält sich dazu aber wertneutral offen: Zwischen größeren Namen (Grateful Dead, Buffalo Springfield, Love) und kleineren Acts, vom jedem nur einen Song, und in lehrreicher Bandbreite.
Hörspielartiges wie die Aliens-Story von "Kim Fowley - Strangers From The Sky", mit Surren, Fiepen, Schnurzen, Schnalzen, Getröte findet seinen Platz. Monumentales Keifen im melodramatischen Rahmen ("Sonny - Pammie's On A Bummer") gehört genauso dazu wie Blues-Entlehntes oder früher Electric Bluesrock wie "The Id - Boil The Kettle, Mother" oder "The Blues Project - No Time Like The Right Time". Ebenso wie Barockpop von "Tim Rose - Morning Dew", nicht zu verwechseln mit der Band "The Morning Dew - No More". Avantgarde (Captain Beefheart), Rock'n'Roll-Nachwehen ("Moby Grape - Fall On You"), heavy stuff von Steppenwolf, etliche wie die Chamber Brothers entwuchsen Folk-Locations, und außer all dem ist leichte Kost vertreten.
Das informative Booklet enthält informative 48 Seiten in einer Mischung aus Lexikon und Fotoalbum. Zu fast jeder Band findet sich außer den Plattencovern auch ein Gruppenfoto, die Herkunftsgeschichte und eine Einordnung des Song-Picks ins Gesamt-Oueuvre. Zwischen den Zeilen wird's ab und an auch ironisch. Etwa mit Blick auf die astrologische Gläubigkeit, wie sie sich in den Gruppennamen Zodiac und Sagittarius oder einem Songtitel wie "Astrologically Incompatible" abzeichnet. Alle Booklet-Einträge sind schön gestaltet und von angenehmer Informationsdichte. Aber auch ohne dieses Begleitschreiben, erfüllt die Sampler-Box ihren Auftrag. Sie erzählt, dass weitaus nicht nur in Kalifornien die Hippie-Welle 1966/67 überschwappte. Die Musizierenden stammen neben den üblichen Metropolen am Puls der Musiktrends (San Francisco, L.A., New York, Chicago) auch aus Ohio, Kansas, Texas, Indiana, Arkansas, Washington, Michigan, Connecticut - eine Combo sogar aus Kanada, sie wanderte nach Cali ein.
Unterm Strich: Ein ganz starkes Teil aus einer fruchtbaren - mit dem Vietnamkrieg gleichwohl furchtbaren - Phase der US-Gesellschaftsentwicklung. Empfohlen sei, um in die Stimmung dieser Ära zu kommen, der Film "Die Reifeprüfung" ("The Graduate") mit Dustin Hoffman und Anne Bancroft, der zeitgleich mit einem Soundtrack von Dave Grusin und Simon and Garfunkel entstand.
Zusammen gestellt hat diese Box Dave Wells, Label-Manager für Psychedelic Pop. Der muss einen Traum-Job haben, den ganzen Tag alte Archive durchwühlen und nach Perlen tauchen; aber auch lästige Lizenzanfragen durchfechten, Fotorechte klären. Auf die Verzahnung mit der Soul-Historie hätte man durchaus noch eingehen können, in Musikauswahl und Infos. Motown gibt's sowieso mit den legendären Vanilla Fudge, leider in der kurzen Version von deren "You Keep Me Hangin' On.
Eine Zeit, in der Bands auf Namen wie "Die Erdnussbutter-Verschwörung" ("The Peanut Butter Conspiracy - It's A Happening Thing"), Fapardokly ("Fapardokly - Lila"), Zitronennebel wenn nicht gar Zitronen-Lutschbonbons ("Lemon Fog - Echoes Of Time", "The Lemon Drops - I Live In The Springtime ('Drum' Version)" lauteten. Oder "Erdbeerwecker" ("Strawberry Alarm Clock - Rainy Day Mushroom Pillow"), Pfefferminz-Koffer-Firma ("The Peppermint Trolley Company - It's A Lazy Summer Day") oder Doppler-Effekt ("The Doppler Effect - God Is Alive In Argentina"), benannt nach einer physikalischen Gesetzmäßigkeit, die man sich heute bei Schwangerschafts-Screenings zunutze macht. The Doppler Effect brachten es jedoch nur auf diese eine Single. Viele Leute gehen in die Musikbranche, weil sie genau keine Fans von Physik sind, aber bei den Hippie-Bands galt eben der alte Werbe-Slogan 'Alles ist möglich'.
4 Kommentare mit 8 Antworten
Sehr gute Musik von teils unbekannten Bands und Künstlern aber sehr Empfehlenswert.
Ein paar Bands sind jedoch bekannt The Monkees, Love, The Grateful Dead, The Young Rascals mit dem bekannten Song Groovin', The Lovin' Spoonful und noch ein paar andere
"Ein paar Bands sind jedoch bekannt"
Welche Bands denn ????
Schwingi, da du schreiben kannst, gehe ich davon aus das du auch lesen kannst. Also wende diese Fähigkeit auch an.
Und falls dir The Monkees, Love oder The Grateful Dead nichts sagen, bist du wohl falsch hier.
Da is aber einer schön in die Kacke getreten.
Running Gag, Johnn Lenon. Einfach bissel weniger mit Joko Onno korpulieren und mehr auf die Entwicklungen bei laut.de achten, mmhh? Danke.
Was für ein durchsichtiger Move. Unwissenheit hinter einem Gag verstecken. ; )
Deine Karriere hat seit den 80ern auch deutlich nachgelassen.
Witzig: Während ich mit den ganzen 70er bis 90er Revival Wellen / Veranstaltungen überhaupt nix anfangen kann, bekomm ich bei DEM Zeug echt nostalgische Gefühle! Und das, obwohl ich da noch lange nicht auf der Welt war...
Cool, das hätte ich gerne als Vinyl! Gibts aber leider (noch) nicht.
Cherry red angefragt - wird es wohl nicht geben, schade.