laut.de-Kritik
Das Gespenst heißt Liebe.
Review von Giuliano BenassiWie sieht es aus, wenn ein Gespenst geboren wird? Der Gestaltung der CD nach öffnet sich ein makellos weißes Ei, aus dem nichts heraus kommt. Zumindest nichts Sichbares. Handelt es sich tatsächlich um Leere? Oder, etwas abstrakter gesehen, um Dinge, die nicht geschehen, wichtige Momente, die nicht stattfinden, weil niemand richtig weiß, was zu tun ist?
"The greatest lost track of all-time ... you can't hear it on the radio, can't hear it anywhere you go", heißt es im letzten Stück "The Late Greats". Aus welchem Grund können wir dieses Stück nicht hören? "The best band will never get signed, The Kay-Settes starring Butchers Blind ... The greatest singer in rock'n'roll would have to be Romeo. His vocal chords are made of gold, he just looks a little too old", lauten die (wohl falschen) Gründe. Schlechter Name oder zu hohes Alter - schon ist die Karriere beendet, bevor sie überhaupt anfängt.
Eine Geschichte, die Wilco gut kennen. Der perfekte zeitlose Track ist ihnen auch auf ihrem fünften Studioalbum nicht gelungen, aber Jeff Tweedy und seine Mitstreiter (darunter Sonic Youth-Produzent Jim O'Rourke) haben sich wieder mächtig Mühe gegeben. "Ich glaube, das ist unser schlüssigstes Album, zumindest, was unsere Herangehensweise angeht," erklärt Tweedy. "Wir wollten uns und unsere Musik so menschlich wie möglich in einer völlig der Künstlichkeit verfallenen Welt präsentieren."
Technisch gesehen bedeutet das: rein analoge Gerätschaften und ausschließlich Direktaufnahmen ohne Nachbearbeitung oder Overdubs. Musikalisch decken Wilco wieder ein weites Spektrum an Gefühlen ab: Von Verzweiflung zu so etwas wie Glückseligkeit über Stress, Unmut und Zweifel.
Kaum hörbar beginnt das Album mit den ersten Takten von "At Least That's What You Said": Ganz leise singt Tweedy bei Klavierbegleitung von einer Beziehungskrise. Nach zwei Minuten setzen eine E-Gitarre und der Rest der Band ein, in den folgenden drei Minuten steigern sich alle Beteiligten in ein verzerrtes Chaos Youngscher Qualität. Die letzten Sekunden bestehen aus Stille.
Ein typisches Wilco-Stück: eigentlich recht einfach, aber effektiv. So wie der Herz zerreißende Klang des kurzen Solos in "Hell Is Chrome" oder das an Kraftwerk angelehnte Keyboard zu Beginn von "Spiders (Kidsmoke)". "Muzzle Of Bees" bietet mehr oder weniger entspannten Country-Folk mit Klaviereinlage, "Hummingbird" erinnert nicht nur durch den Titel an die Beatles. Zwar brechen immer wieder Misstöne ein, für eine Orgie à la "Yankee Hotel Foxtrot" (2002) muss man sich jedoch bis zum vorletzten Stück "Less Than You Think" gedulden. Dort wartet ein über zehnminütiges Feedback-Pfeifen auf, bevor "The Late Greats" einen gewöhnlicheren Abschluss bietet.
"Alles auf dem Album beschreibt den Prozess des Werdens, da strebt alles hin. Am Ende definierst du dich durch das, was du liebst, und vor allem die Menschen, die du liebst", erklärt Tweedy. Geht es bei der Definition des Gespenstes letzendlich doch wieder um das leidliche Thema der Liebe? "His goal in life was to be an echo, riding alone, town after town, toll after toll ... to forget her", heißt es in "Hummingbird". Was diese Interpretation zu rechtfertigen scheint. "Das ist eigentlich kein neues Thema", gibt Tweedy selbst zu. Aber eines, das Wilco mal wieder interessant aufgearbeitet haben.
PS: Die CD erhält Live-Bonusmaterial, das nur auf einem Computer abspielbar ist.
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