laut.de-Kritik
Masse ist nicht gleich Klasse, Herr Ratzinger.
Review von Björn JansenFleißig ist er ja, der Rudy Ratzinger, Macher und Kopf von Wumpscut. Doch Masse ist nicht gleich Klasse. Seit 2004 erscheint jedes Jahr eine neue Platte. Gut, Wumpscut gilt auf den Dancefloors der EBM/Industrial-Szene seit Jahren als gesetzt. Genügend legendäre Tracks hat Rudy in seiner langen Musikerkarriere bereits produziert. Aber "Body Census" will nicht so richtig zünden und an vergangene Erfolge anknüpfen.
Industrial ist keine Musikrichtung, die man sich bei einem Glas Wein und einer netten Unterhaltung anhört, man will sie ausleben. Jedoch genau dieses klappt mit "Body Census" nicht so recht. Vom netten Elektrogeplänkel bis hin zum gepflegten Amoklauf auf der Tanzfläche ist aber dennoch alles dabei. Der Opener "The Beast Sleeps Within You" stellt sogleich den perfekten Repräsentanten für das gesamte Album dar. Ein interessanter Track - interessant aber doch eher im Sinne von ganz nett. An den vielen kleinen kreativen Spielereien, für die Wumpscut bekannt sind, erkennt man zumindest, dass erneut mit Liebe zum Detail gearbeitet wurde.
Umwerfend ist aber höchstens das Drumherum des Tonträgers. So kommt "Body Census" in vier verschiedenen Varianten in den Handel. Von der Standard Edition bis hin zur so genannten Limited Luxus Edition. Wenn doch nur die Musik ähnlich anspruchsvoll wäre: "Hide And Seek" sticht durch gähnende Langeweile im Ambient/Trance-Stil hervor. Lyrics? Mangelware! Also was hat so ein Track auf einem Wumpscut-Album zu suchen? Wo die Band doch für ihre Texte bekannt ist. "We Believe, We Believe" besitzt einen durchgehend mitreißenden Beat, mit einer Spannungskurve, die leider nur bis zum Refrain anhält.
Von da an besteht der Track nur noch aus einem Loop des Refrains. Für Herrn Ratzinger definitiv zu wenig. Die Idee ist gut, aber mit einer aggressiveren und weniger gelangweilten Stimme oder einem härten Bass hätte der Song mehr Potential. "My Dear Ghoul" geht anschließend ins Rennen und läuft richtig gut rein. Der Song übernimmt den Amoklaufpart und rettet das Album. Fette Beats und ein Rhythmus, bei dem man die Füße nicht still halten kann. Die Orgeleinlage und der im Hintergrund laufende, einem Engelschor ähnelnde Sound, geben dem Track einen mystischen Touch, ohne dabei kitschig oder flach zu wirken. Dezenter Einsatz technischer Spielereien mit großer Wirkung.
Gesanglich besteht der Song leider, wie bei "We Believe, We Believe", nur aus einem Dauerloop des Refrains. Wobei es ein Track für die Tanzfläche ist und somit perfekt funktioniert. Ein echter Wumpscut eben, der sich vor den Evergreens "Passion Wreath" oder "War" keineswegs verstecken muss. Neben "My Dear Ghoul" sticht noch "You Are A Goth" positiv hervor. Der Grundbeat ist klassisch minimalistisch mit Industriellen-Geschrabbel und psychedelischen Synthie-Einlagen.
Der Gesang ist simpel gestrickt, extrem dreckig, verzerrt und aggressiv. So soll es sein. "Homo Gotikus Industrialis" dürfte sicherlich alleine schon wegen des Titels ein Hit werden. Streng genommen besteht der Song nur aus den drei Worten "Homo", "Gotikus" und "Industrialis", die zweistimmig im Kanon performt wird. Auch wenn es in der Limited Luxus-Edition einen Aufkleber zum Song gratis dazu gibt, kann der Track musikalisch nicht überzeugen. Es fehlt einfach der Kick.
"Adonia, My Lord" und der Namensgeber des Albums, "Body Census", sind im Grunde nicht erwähnenswert. Beide stellen Versuche dar, Melancholie und Dramatik in einer ruhigen Verpackung zu vereinen. Langgezogene Gesangspassagen als Stilmittel für Dramatik einzusetzen mag schön und gut sein, aber man sollte den Bogen nicht überspannen. "The Fall" sticht noch einmal hervor, weil er völlig anders ist: Ein minimalistisch verträumter Beat mit weiblichem Gesang, der zwischen lasziven und sanften Tönen hin und her pendelt. Als Finisher des Albums jedenfalls ein Knaller. "Body Census" besitzt wirklich hervorragende Details, doch eine industrielle Revolution klingt anders.