laut.de-Kritik
Ein bildhafter, monumentaler, atemberaubend schöner Trip.
Review von Toni HennigDie keltische Insel Ouessant, Frankreichs westlichster Punkt, strahlt mit rauem Meer und vielen Leuchttürmen und Felsen nichts Tröstliches aus. Dort lebt der bretonische Komponist und Multiinstrumentalist Yann Tiersen in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit schon seit mehr als einem Jahrzehnt. Seiner kargen Wahlheimat, die nur knapp 850 Einwohner zählt, setzte er mit dem Klavierwerk "EUSA" 2016 ein musikalisches Denkmal. Mit "All" greift er den thematischen Faden dieser Platte wieder auf, geht jedoch weitaus mehr in die Breite.
Dabei nimmt Tiersen auf ein symbolisches Schlüsselerlebnis Bezug: Er und seine Frau mussten während einer Radtour in den Redwoods in Kalifornien an der "Usal Road" vor etwa vier Jahren vor einem Puma fliehen. Sein Verhältnis zur Natur war danach verständlicherweise ein ganz anderes. Besagte Gegend besuchte er im Zuge der Aufnahmen nun ein weiteres Mal, um Violinenparts einzuspielen.
Des Weiteren sammelte er dort und am stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof Field Recordings. Zurück in Ouessant, kombinierte er sie in seinem Studio The Eskal, das zugleich Venue und Gemeindezentrum ist, mit Klavierarrangements und analoger Elektronik. Bei "All" handelt es sich um die erste Platte, die in diesem Umfeld entstand.
Tiersen arbeitete dafür mit zahlreichen Gastsängern und -sängerinnen zusammen. Zudem traute er sich erstmalig, seine Texte auf Bretonisch zu verfassen. Nur in wenigen Momenten hört man Zeilen auf Französisch. Der mittlerweile 48-Jährige nimmt uns so auf eine musikalische Weltreise mit: bildhaft, monumental und atemberaubend schön.
Am Anfang führt er uns nach "Tempelhof". Dieser Ort wandelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu "einer Einöde, wo sich die Natur ihr Recht zurückfordert", sagte er kürzlich in einem Interview für ARTE. Zunächst sind spielende Kinder und Fahrradgeräusche zu vernehmen, begleitet von einer auf- und abebbenden Pianomelodie nebst melancholischen Ambient-Klängen im Vangelis-Stil. Mensch und Natur befinden sich für wenige Minuten im Einklang. Gegen Mitte zeigt der Flughafen allerdings seine graue, hässliche Fassade, wenn plötzlich dronige Gitarren hereinbrechen.
Danach geht es in "Koad" gemeinsam mit der Schwedin Anna von Hausswolff in die mystischen Mammutbaum-Wälder der südwestlichen Grafschaft Devon in Großbritannien. Ausgehend von zaghaften Klavierakkorden und ihrem nachdenklichen Hauchen gewinnt die Nummer nach und nach an Intensität und erreicht schließlich mit dem Gänsehaut-Refrain, getragen vom virtuosen Spiel Tiersens und einer ätherischen Gesangsmelodie, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, ihren Höhepunkt. Der Track verschlägt einem absolut die Sprache, so umwerfend klingt er.
Erstmal tief Luft holen und sammeln: Dafür bietet das über neunminütige "Erc'h" genug Zeit. Mit Ólavur Jákupsson, der schon in der Vergangenheit auf mehreren Werken des Bretonen als Sänger zu hören war, gesellt sich ein weiterer Reisebegleiter dazu. Der lässt es zu zarten Akustikgitarren, meditativen Drones und Kirchenglocken mit seinem beschwörenden Timbre geduldig angehen.
Der Hörer streift in seiner Fantasie durchs beschauliche, verschneite Land. Außerdem geizt der Song, wenn gegen Ende aus dem Nichts engelhafte Frauenstimmen auftauchen, nicht mit pathetisch-erhabenen Momenten. Dadurch gleitet er nicht zu sehr ins Monotone ab. Für mehrere Minuten möchte man die Welt einfach nur umarmen. Gerade für die kleinen, unscheinbaren Dinge im Leben findet Tiersen nach wie vor große Töne.
Nach diesem langen Aufenthalt sieht man sich dann zu beklemmenden Violinen und nervöser Minimal Music auf der "Usal Road" mit der eigenen Abhängigkeit im Naturkreislauf konfrontiert. Die Klauen der Katze lassen nur die Flucht ins Weite zu. In "Pell" rückt dieses Ereignis gedanklich jedoch allmählich in weite Ferne, wenn das Bedrohliche einer andächtigen Sitar, melodischen Klavierfiguren, sanften Engelsgesängen, dem Lachen eines Babys und himmlischen Streichern weicht.
Von nun an kommen vermehrt zuversichtlichere Momente zum Vorschein, selbst wenn uns der Strudel der Angst in "Aon" in die Tiefe zu ziehen droht. Hinterher liegt man abends noch etwas gedankenversunken und müde in "Prad" zu behutsamen Pianotönen auf einer Wiese, um den Rufen der Uhus und den Gesängen der Amseln, Drosseln, Finken und Stare zu lauschen.
Zuvor ertönen helle Frauenstimmen, von ritueller Akustik begleitet ("Bloavezhioù"), barocke Gesänge und Melodien unter Hinzunahme pompöser Bläser ("Heol"), und der bretonische Singer/Songwriter Deniz Prigent ("Gwennilied") lädt mit seinem tiefen Timbre zu einer schamanischen Beschwörung ein. Man bekommt so einen Einblick in die Vielfalt keltischer Riten und Bräuche.
"Beure Kentañ" führt am Schluss zur inneren Einkehr. Schwirrende Elektronik, zurückgenommene Akustik und entrückte weiblichen Spoken Words steuern auf einen fließenden Wasserfall zu. Dort wartet prächtiges Vogelgezwitscher. Die ersten Sonnenstrahlen durchdringen die reine, trockene Frühlingsluft. Hier scheint jeglicher Trubel, aller Materialismus der Welt verflogen. Man möchte hier am liebsten ewig verweilen.
Yann Tiersen hat überhaupt nicht verlernt, naturbetonte Klänge, traditionelle bretonische Musik und anmutige, liebliche Melodien kongenial miteinander zu verweben. Dazu kommt "All" um Einiges lebhafter und dynamischer daher als der Vorgänger. Jeder Song lässt in eine völlig eigene Welt eintauchen, die einzelnen Teile fügen sich zu einem großen Ganzen.
2 Kommentare mit einer Antwort
wird sowas von gecheckt. Super Mann
Dust Lane fand ich stark, danach hatten die Alben einige Längen. Wohl eher wirklich Soundtracks, also man braucht ein Bild zur Ergänzung?!
Eventuell für den gedanklichen Streifzug durch die weite Natur. Klappt ganz gut.