laut.de-Kritik

Splatter-Beats auf die Konventionen.

Review von

Dinge, die einfach unbegreifbar bleiben: Im Jahr 2020 gibt es tatsächlich im Netz eine Hasswelle auf fiktive Gaming-Charaktere. Die Fortsetzung des Videogames "The Last Of Us" löst Shitorkane aus, weil in einer virtuellen Welt nun auch homosexuelle und transidentitäre Charaktere auftauchen. Der Vorteil dieser Figuren: Sie existieren nicht real und können diese Aggressionen aushalten. Die venezolanische Künstlerin Arca hingegen muss schon lange mit Phobie gegenüber nicht-binären Menschen leben. Kein Wunder, dass sie in ihren Artworks gerne in fremde Welten abtaucht und ihre eigene alternative Realität erschafft.

Das neue Album "KiCk i" bildet da keine Ausnahme. Mal wieder eine Herausforderung und doch ein Einblick, wie die Zukunft von Pop aussieht. Ein Upgrade zu dem Sound von Aphex Twin, der zwar nicht weniger großartig, aber doch schon vorhersehbar wirkt. Das lässt sich über "Nonbinäry" nicht sagen. Ein gewöhnungsbedürftiger Einstieg, der im Angriffs-Modus Splatter-Beats abfeuert mit einer Wucht, die Konventionen zerstört. "Nichtbinär" muss man dann gar nicht mehr auf das Gender-Thema umlegen, denn diese Vielzahl an Beats und Eindrücken wirkt wie auf einem Quantencomputer programmiert. Codes, die einfache Computer nicht mehr berechnen. Was für eine passende Allegorie auf Arca und ihren Sound.

Fast schon zahm ist hingegen "Time", das pulsiert und doch unwirklich-traurig in eine Traumwelt abdriftet. Der für normale Hörgewohnheiten kompatibelste Song ist ein Pop-Song über den großen Ausbruch, den sich alle Menschen abseits der Gesellschaft wünschen. "And it's time / To let it out / And show the world / Take this time / It's all yours." Arca ist (nun) so frei und lässt auch in ihrem Art-Electro einen Moment der Ruhe zu.

Das ein Song mit Björk eben in einem Björk-Song endet, ist dagegen keine große Überraschung. Die isländische Künstlerin ist nicht nur die Blaupause für Arca, sondern übergibt praktisch in "Afterwards" den Stab an die nächste Generation. Sicherlich auch eine Gegenleistung für die Mitarbeit an ihren Alben "Utopia" und "Vulnirica". Utopisch und verletzlich bleibt auch das Klangbild bei dem neuerlichen Duett, das die gemeinsamen Arbeit "Arisen My Senses" praktisch fortführt. Nicht der einzige Gastauftritt, auch die schottische Pop-Rebellin Sophie und der spanische Superstar Rosalía, die gerade Latino Musik revolutioniert, sorgen für weitere spannende Sound-Clashs auf "KiCk i".

Genau so muss Musik 2020 klingen. Nicht feige und uninspiriert in der Vergangenheit verhaftet, sondern voller Abenteuerlust auf die große Entdeckerreise. Auf "KiCk i" gibt es so viel zu ergründen und zu erleben. Hier entstehen die neuen Sounds, auf die Künstler wie Kanye West, Frank Ocean oder FKA Twigs auch demnächst wieder zurück greifen. "No Quede Nada" heißt der letzte Track auf dem Album und bedeutet übersetzt "nichts bleibt". Romantischer Witch-House schließt das Album ab. Das ist kein Abschied, sondern der Aufbruch in ein neues Pop-Zeitalter.

Trackliste

  1. 1. Nonbinary
  2. 2. Time
  3. 3. Mequetrefe
  4. 4. Riquiqui
  5. 5. Calor
  6. 6. Afterwards (feat. Björk)
  7. 7. Watch (feat. Shygirl)
  8. 8. KLK (feat. Rosalía)
  9. 9. Rip The Slit
  10. 10. La Chiqui (feat. Sophie)
  11. 11. Machote
  12. 12. No Queda Nada

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1 Kommentar

  • Vor 4 Jahren

    Na gut einer muss es ja tun.
    Ich muss sagen, ich hatte ein völlig falsches Bild von dieser Musik. Dachte das wäre diese übliche kontemporäre Popscheiße die auch auf Laut total abgefeiert wird (Billie Eilish, Dua Lipa, The Weeknd). Warum nur???
    Zum Glück habe ich mich mal durchgerungen, und muss sagen: Das ist richtig, richtig gut!