laut.de-Kritik

Ein in Licht gehülltes Mädchen dirigiert die Finsternis.

Review von

Beim Blick auf das offizielle Avatarium-Line-Up anno 2017 wird man erst einmal stutzig: Wo ist Leif Edling abgeblieben? Live war das gesundheitlich angeschlagene Candlemass-Mastermind zwar noch nie an Bord gewesen, trotzdem aber die treibende kreative Kraft hinter Avatarium. Was ist also geschehen? Glücklicherweise nichts. Aus Respekt vor den anderen Mitgliedern, darunter zwei Neuzugänge, listete man nur die aktive Besetzung. Und auch wenn Edling diesmal selbst dem Studio fernblieb, bei den Kompositionen für "Hurricanes And Halos" hatte er weiterhin die Finger im Spiel.

Sechs von acht Songs stammen von ihm. Schlechtes kriegt man von dem Mann ohnehin nicht zu hören. Wenn Sängerin Jenni-Ann Smith (gemeinsam mit Gitarrist Marcus Jidell die zweitwichtigste Songwriting-Zuständige) im Interview behauptet, das hier sei ihr bislang bestes Album, ist man versucht, ihr taub zu vertrauen. Ein paar Hördurchgänge später kann man dann auch ein Häkchen hinter die Aussage setzen. Unter Vorbehalt zwar, da sich das Debütalbum stilistisch doch etwas abgrenzt. Im Bezug auf den hochqualitativen Vorgänger "The Girl With The Raven Mask" stimmt ihre Aussage aber. Dessen eingeschlagenen Weg gehen Avatarium nun konsequent weiter und schmücken ihn mit zusätzlichen Girlanden.

Zunächst fällt der noch einmal gestiegene Solo-Anteil auf. Marcus Jidell und Rickard Nielsson, der Neue an der Orgel, liefern sich Duelle, bei denen Jam-Freunde ganz automatisch die Finger in die Hose gleiten lassen. Einzelne Stellen herauszugreifen ist eigentlich überflüssig, da jeder Track irgendwelche Offenbarungen zu bieten hat. Der Einfachheit halber: Nielsson brilliert bereits im Opener. Besser kann man sich kaum um ein Riff herumwinden. Kollege Jidell hat seinen wohl größten Moment in "Medusa Child". Im Grunde ist die gesamte zweite Hälfte des Neunminüters eine kontinuierliche dynamische und dramaturgische Steigerung, an der alle teilhaben, Jennie-Ann am Mikro ausgenommen. Der Hauptschuldige am Klimax ist dann allerdings Jidell, der sich mit zähen Bendings durch das Orgeldickicht schneidet.

Trotzdem bleibt "Medusa Child" vor allem wegen eines anderen Elements in Erinnerung. Denn das 'child' im Titel bekommt seinen Auftritt in Gestalt der neunjährigen Edith, die im Duett mit Jennie-Ann den Pre-Chorus bestreitet und im Mittelteil sogar acapella randarf. Sie sorgt für einen der ungewöhnlichsten aber auch einprägsamsten Momente des Albums. Genau mit solchen Elementen umkurven sie die Klischee-Retrofalle. Derartige Etikette gleiten an der "Medusa Child"-Melodie haltlos ab. Als Grauzone zwischen Spoken-Word, Gemeindemantra, Ritualgesang und Märchenerzähler glimmt dieser Fokalpunkt zwischen düsteren Riffsäulen. Stellt euch vor, die Tore Minas Morguls öffnen sich unter Getöse und heraus tritt ein kleines, in helles Licht getauchtes Mädchen und plötzlich halten alle die Klappe. Jedenfalls bis die Schlangenhaare auf dem Janusköpflein zu keifen beginnen und die gar nicht so unschuldige zweite Seite der Persönlichkeit Überhand nimmt: "Medusa!"

Freilich kommt Jennie-Ann auch wunderbar ohne jüngere Unterstützung aus. In "Road To Jerusalem" begibt sie sich zu energischen Westerngitarren auf Wanderschaft, flicht subtil orientalische Anleihen in die Harmonien und transformiert die gesamte zweite Songhälte zur Hook. Die hätte statt zwei Minuten auch gerne doppelt so lang sein können. Noch öfter könnte man sich den Chorus zu "Starless Sleep" anhören. Gleichzeitig leicht und tanzbar, schwingt dennoch eine gewisse Sehnsucht darin mit. Die Vocal-Lines dieses Tracks dürften selbst ABBA neidisch machen. Im Ernst: In einer idealen ABBA-Coverband steht Jennie-Ann Smith am Mikro. Sogar ABBA-Hasser könnten das feiern.

Bevor das ABBA-Namedropping noch Überhand nimmt, konzentrieren wir uns aber lieber noch auf das Stück, das nicht ohne Grund am Ende steht und sieben Minuten lang ist: "A Kiss (From The End Of The World)". Sowohl textlich als auch musikalisch geben Avatarium einen Überblick über ihre Schöpfungskraft und erkunden die romantischen wie melancholischen Momente, die doomigen, die psychedelischen, die progressiven, die poppigen, die metaphorischen und die erdigen ihrer Existenz. Dabei kann man kaum erwarten, dass Jennie-Ann ihre Ankündigung wahr macht: "I blew you a kiss / From the end of the world / And one day I'll return". Bitte in ein Konzerthaus meiner Nachbarschaft.

Mit "Hurricanes And Halos" legen Avatarium ihr bislang abwechslungsreichstes Album vor. So (be)sinnlich wie in der Ballade "When Breath Turns To Air" und dem Outro "Hurricanes And Halos" zeigte sich die Band noch nie, so flott wie in "Into The Fire/Into The Storm" und "The Sky At The Bottom Of The Sea" auch nicht. Mit Jennie-Ann Smith hat die Truppe eine Sängerin in ihren Reihen, die eben nicht einfach bloß die Röhre auspackt, um kurzlebig Eindruck zu schinden, sondern die Melodien zu errichten und zu variieren weiß. Mit Leif Edling einen Komponisten, der nach jahrelanger Erfahrung noch immer nicht genug davon hat, Grenzen auszureizen und in neue Gefilde vorzudringen. Mit Marcus Jidell und Rickard Nielsson ein Lead-Duo, das sich blind die Bälle zuzuspielen weiß und sich stets darauf verlassen kann, dass die Rhythmusfraktion Lars Sköld (Schlagzeug) und Mats Rydström (Bass) die richtige Stimmung einfängt (hervorragend: "The Sky At The Bottom Of The Sea").

"So what happens when you close your eyes? / Will the breeze inside your head become a storm?", fragt "The Starless Sleep". Ich würde vorschlagen, ihr probiert das gleich mal aus: Augen zu, Musik ab, willkommen bei Avatarium.

Trackliste

  1. 1. Into The Fire/Into The Storm
  2. 2. The Starless Sleep
  3. 3. Road To Jerusalem
  4. 4. Medusa Child
  5. 5. The Sky At The Bottom Of The Sea
  6. 6. When Breath Turns To Air
  7. 7. A Kiss (From The End Of The World)
  8. 8. Hurricanes And Halos

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LAUT.DE-PORTRÄT Avatarium

Leif Edling genießt in Metalkreisen längst Legendenstatus. Der Mann ist quasi Doom. In den 80ern hebt er Candlemass aus der Taufe und prägt damit ein …

5 Kommentare

  • Vor 7 Jahren

    Da hat der Edling aber auch einen Glücksgriff getan, Wahnsinn was der an qualitativem Material raus haut

  • Vor 7 Jahren

    Die sind live auch sehr empfehlenswert (auch wenn der gute Herr Jidell sich letztes Mal in Pratteln akustisch sehr in den Vordergrund gedrängelt hat). Seis drum. Die Mischung aus Jennie-Ann Smith's Gesang, dem Candlemass Sound und den phantasievoll-bekloppt-düsterpoetischen Texten war und ist eine Bereicherung für mein Dasein :-). Wer Doom mag und Avatarium nicht kennt, sollte die sich definitiv mal anhören.

  • Vor 7 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 7 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 7 Jahren

    Netter Sound zwischen Rainbow und Led Zeppelin. Edling haut auch ein paar nette Sachen raus, aber kein zweites "You Are Bewitched". Nicht so mein Fall, obwohl handwerklich sicherlich alles top.