laut.de-Kritik
Der Nachfolger von "Mermaid Avenue".
Review von Giuliano BenassiAls Nora Guthrie ihn nach einem Auftritt fragte, ob er nicht Lust hätte, unveröffentlichte Songs ihres Vaters Woody zu vertonen, hätte Billy Bragg sicherlich nicht gedacht, dass das Projekt seine Karriere entscheidend prägen würde. Denn die erste Auswahl der Aufnahmen mit Wilco, "Mermaid Avenue" (1998), hatte eine so große Resonanz, dass 1999 ein "Vol. II" erschien. 2012 kam neben "Vol. III" auch die üppige wie lohnenswerte Gesamtausgabe "The Complete Sessions" heraus.
Anlass war Woody Guthries 100. Geburtstag. Zugleich war es die Chance für Bragg, sich wieder in Erinnerung zu rufen, nachdem er sich im neuen Jahrtausend auf Platte eher rar gemacht hatte. Interessanterweise hatte er das vorliegende Album schon im Kasten, bevor das Guthrie-Jubiläum im Sommer anstand. Anfang 2012 hatte er sich in Joe Henrys Studio bei Los Angeles eingemietet, um mit einer Handvoll Musiker endlich mal wieder neue Stücke aufzuzeichnen.
Henry ist spätestens seit Aaron Nevilles großartigem "I Know I've Been Changed" (2011) eine Art alternativer Rick Rubin geworden, der das, was er anpackt, in Gold verwandelt. Wobei Gold in diesem Fall nicht Geld, sondern Qualität bedeutet, Musik, die unter die Haut geht.
"Die meisten assoziieren meinen Namen mit politischen Hymnen, die im Kampf entstanden sind. Ich muss immer wieder daran erinnern, dass ich gleichzeitig der Sherpa der gebrochenen Herzen bin. Ich schreibe auch Lieder, die sich mit Beziehungen befassen. Insbesondere mit der Schwierigkeit, die Beziehungen zu denen aufrecht zu halten, die wir am meisten lieben", erklärt Bragg zum vorliegenden Album.
Dass ihn "Mermaid Avenue" nicht loslässt, zeigt sich daran, dass er wieder ein Stück Woody Guthries aufgenommen hat. Diesmal allerdings eines, das der Meister selbst schon vertont hatte und das zu seinen bekanntesten zählt, "I Ain't Got No Home". Wie im Original begleitet sich der Sänger lediglich mit seiner Akustikgitarre.
Es ist einer der besten Momente des Albums. Was nicht bedeutet, dass die Studioband nicht mithalten könnte. Wie gewohnt hat Henry eine Handvoll Musiker eingeladen, die zum Projekt passen, in diesem Fall Greg Leisz (Bon Iver, Pedal Steel), Patrick Warren (Lana del Rey, Klavier), Jay Bellerose (Regina Spektor, Schlagzeug) und David Piltch (Ramblin' Jack Elliot, Kontrabass).
Fünf Musiker und ein Produzent, die das gesamte Album in fünf Tagen live aufgenommen und dabei auf Overdubs verzichtet haben. Um genügend Tracks zu haben, steuerte Henry die Texte zu "Over You" und "Your Name on My Tongue" bei. Wie es im Studio zugegangen ist, zeigen nicht nur Clips im Internet, sondern vor allem die Stimmung, die das Album ausströmt: Locker und harmonisch, gleichzeitig konzentriert und tiefschürfend.
"Meine Reise war letztens sehr beschwerlich. Ich musste rausgehen und kämpfen", erklärt Bragg im Opener "January Song". Begleitet von seiner Gitarre, dem Kontrabass und einer Tambourine, die perfekt zu seiner tiefen, angerauten Stimme passen. Wobei er gleich klar stellt, dass er durchaus noch ein politischer Mensch ist: "Ein Politiker, der Freiheit verkauft. Der Aufkleber kostet 50 Cent. Wenn du ihn fragst, wovon er befreit sein will, gibt er dir eine sinnfreie Antwort", heißt es in der folgenden Strophe.
Während die Texte eher nachdenklich bis düster sind, fällt die Musik eher entspannt aus, irgendwo zwischen Folk und Alt-Country, mit gelegentlichen rockigen Anleihen. Das einzige Stück, das aus dem Rahmen fällt, ist "There Will Be A Reckoning". Nicht nur wegen des Titels erinnert es an die schlechteren Momente Bruce Springsteens - es klingt wie ein Relikt aus den 80er Jahren, das höchstens als B-Seite getaugt hätte.
Elf gute Songs (von zwölf) ist allerdings eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Zumal "Handyman Blues", "Do Unto Others" oder "Goodbye, Goodbye" den Ausrutscher mühelos auffangen. Der Schluss fällt sogar versöhnlich aus: "Morgen wird ein besserer Tag. Wir werden es schaffen", gibt uns Bragg in den letzten Zeilen mit auf den Weg.
"Vom Stil her ist 'Tooth & Nail' der Nachfolger von 'Mermaid Avenue', den ich damals nicht aufgenommen hatte", erklärt Bragg auf seiner Webseite. Obwohl Entstehung und Vorgehensweise ganz anders waren, trifft das durchaus zu, denn beide Alben haben das Prädikat "zeitlos" verdient.
2 Kommentare
2013 ist musikalisch echt top!
there will be a reckoning ist in der tat ein überbleibsel von einigen songs, die der gute mann vor einigen jahren mal für eine komboperformance musik/theater aufgenommen hat. trotzdem super lied, super album.