laut.de-Kritik
Mainstream-Pop mit einem berührenden Titelsong.
Review von Jeremias HeppelerLet's Go, konservativer Textanfang: "Plus Qu'Ailleurs" eröffnet die Platte so französisch wie es nur geht. Die zittrige, gefühlvoll geklopft und gestrichene Akustikgitarre. Die verträumt dahin gehauchten Texte. Die erst später einsetzenden, unaufdringlichen Streicher. Die sich in Mouse au Chocolat-Fluffigkeitsdichte entfaltende Stimme der Protagonistin. All die "Uhuus" und "Ahaaaaas" zum Songausklang. Das alles erinnert uns an die ewigen Chansons, aber auch an French-Pop, an ein Postkarten-Frankreich.
Zwar befinden wir uns nicht in Paris, sondern über dem großen Teich, da drüben, im nordamerikanisch-französischen Außenseiter-Fleckchen Québec. Doch auf ihrem neuen Album "Encore Un Soir" huldigt Weltstar Celine Dion ganz offensichtlich der französischen Popgeschichte und hat sich zu diesem Zweck eine ganze Armada von potenten Songwritern ins Boot geholt. Unter anderem formieren Grammy-Gewinner Jean-Jacques Goldman, Singer-Songwriter Francis Cabrel und R'n'B-Sängerin Zaho diese Liga der außergewöhnlichen Songwriter, die für Celine eine komplette Garderobe an perfekt sitzenden Song-Roben zusammen schneiderte. Heraus gekommen ist eine gut gefüllte Schüssel mit eingängigen, zutiefst harmlosen, in warmen Farben leuchtenden Popsongs und einer Stunde emotionalem Power-Gejodel.
Madame Dion verfolgt seit jeher zwei Karrieren. Eine Weltkarriere. Und eine alternative Québec-Karriere. Letzterer frönt sie mit französischen LPs, die sie immer wieder zwischen ihren englischen Wuchtbrummen vernäht. Selbstredend tönt die aktuelle Platte in der Sprache, die ich persönlich so schnell es nur ging aus meinem Leben wählte.
Doch bei allen Vorurteilen und Witzchen muss ich an dieser Stelle zugeben, dass Celine Dion mit dieser Platte phasenweise wirklich berührt. Das liegt vor allem an den Geschichten hinter den Geschichten. Bei der Bewertung von "Encore Un Soir" und vor allem dem gleichnamigen Titeltrack kommt man eben nicht drumrum, mitzudenken, dass Celine dieses Werk unter dem Eindruck des Dahinscheidens ihres Ehemanns René Angélil einspielte. "Encore Un Soir", das ist der zärtliche, aber hoffnungslose Wunsch, noch einen Abend, eine Stunde, eine Minute miteinander zu verbringen. "Encore un soir/ Encore une heure/ Encore une larme de bonheur/ Une faveur comme une fleur/ Un souffle, une erreur ..."
Die Lyrics des Liebes-Monuments sind dicht und erfrischend kitschfrei. Verpackt sind sie zunächst in eine total klassische Pianoballade, ehe sich der Refrain zur dezenten Powerpop-Dance-Hymne aufschwingt und in seinem letzten Drittel ungeahnte Abgründe offenbart. Keine Frage: Das Titelstück entspinnt sich als großer Popsong.
Der Rest der Platte hechelt da beinahe zwangsläufig hinterher. Immerhin sorgt die Tatsache, dass so zahlreiche Köche den dionschen Brei mit abgeschmeckt haben, dafür, dass sich kaum Langeweile einstellt und ganz verschiedene Stimmungen (im abgesteckten Dion-Versuchsfeld) stimuliert werden. "Tu Sauras" etwa schichtet sich erbarmungslos zur emotionalen Atombombe auf.
"L'Étoile" dümpelt fröhlich tanzbar vor sich hin wie so ein lauer, aber stinklangweiliger Sommerabend. Das extrem dramatische "Ma Faille" atmet mit all seinen großen Gesten noch immer den Geist von Las Vegas, wo Celine zuletzt als Hauptattraktion in Erscheinung trat. Ein wenig heraus sticht "Ordinaire", eine Coverversion des frankphonen Superstars Robert Charlebois, der Celine Dion aber erbarmungslos seinen eigenen Stil einprügelt und dabei ein merkwürdig interessantes Songmonstrum erschafft – nur beim ausufernden, wild schmetternden 80er-Jahre Gitarrensolo (a.k.a. Saitenmisshandlung mit Verdacht auf besondere Schwere der Schuld) stellen sich mir wirklich alle Nackenhaare auf.
Insgesamt ist "Encore Un Soir" Mainstream-Pop allererster Güte, der sich beim Mainstream-Publikum wie geschnitten Brot verkaufen wird. In Québec, Frankreich und der französischen Schweiz grüßt Madame Dion bereits von der Chartspitze. Und das zurecht, glaub ich: Speziell die Gesangleistung der 48-Jährigen ist eigentlich über jeden Zweifel erhaben und deckt problemlos alle Mainstream-Bandbreiten ab. Andererseits haben mich nur wenige Platten 2016 so gelangweilt! Aber auch dieses Urteil wirkt bei genauer Betrachtung genau so langweilig und gelangweilt wie die Platte selbst.
3 Kommentare
soviel wiederspruch hab ich nur selten in einem review gelesen.also das langweiligste album des jahres,aber es ist sehr berührend.sorry beides geht nicht
Also langweilig ist was anderes. Von Chanson bis Rock-Pop ist eigentlich alles diesmal dabei. Mich haben ja immer mehr ihre Sachen von Diane Warren, David Foster, Walter Afanasieff usw. umgehauen. So Lieder wie "If I could", "The Colors of my love", "Because you loved me" oder "The beauty and the beast". Halt so richtig bombastischen Kitsch mit DX7-E-Piano-Klängen und Mini-Moog-Bass-Klängen und ganz viel Strings. Das war mein persönliches Celine-Ding. Von den französischen Songs fand ich ein paar sehr gut. Z.B. Ziggy oder die 1988er Eurovision Nr. 1 "Ne partez pas sans moi". Moment mal! Die Dame ist jetzt 48. Wo sind denn alle anderen aus der Zeit jetzt? Sie liefert immer noch 100% ab, halt nur nicht mehr für die Kiddies und ihrem Alter entsprechend. Sie kann immer noch mit ihren neuen Songs verzaubern.
Meine Highlights sind übrigens "Si c'était à refaire" und "Ordinaire".