laut.de-Kritik
Ein Schwindelanfälle auslösender Rausch, dem Millionen Ideen innewohnen.
Review von Sven KabelitzIm Tod liegt die Kraft, das Leben zu leben. In den letzten Jahren hat Steven Ellison aka Flying Lotus mit seiner Großtante Alice Coltrane, Austin Peralta und J Dilla ihn inspirierende oder nahe stehende Menschen verloren, was ihn letztendlich dazu bewegte, sein neues Werk der Endlichkeit des Daseins zu widmen. Er sieht darin jedoch nicht ein endgültiges Abdriften in ein dunkles Nichts, sondern vielmehr den Übergang zu einer anderen Bewusstseinsstufe. Das finale Abenteuer. Der Weg ins Licht und darüber hinaus.
Dementsprechend trägt nicht etwa Melancholie "You're Dead!", sondern vielmehr Tatendrang. Für diese Reise braucht ihr nichts einzupacken, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. Stattdessen erwartet euch ein faszinierender, sonniger, befremdlicher, angstauslösender, respektloser, mysteriöser und hysterischer Trip. "Bitches Brew" auf Speed.
Nie zuvor nahm Ellison das Erbe der Coltrane-Familie so direkt an. Die ersten vier Stücke "Theme", "Tesla", "Cold Dead" und "Fkn Dead", die zusammen gerade einmal fünfeinhalb Minuten dauern, behandeln die Ära des Fusion-Jazz im hektischen Zeitraffer. Rigoros streicht er jede Form von Stillstand und komprimiert Miles Davis, Weather Report, Mahavishnu Orchestra und Herbie Hancock auf deren Essenz. Letzterer lässt es sich nicht nehmen, Ellison in "Tesla" als persönlicher Obi Wan Kenobi am Fender Rhodes Piano zu begleiten und einen direkten Link zu seiner eigenen "Mwandishi"-Trilogie zu setzen.
Hat man die Fahrt über die Styx erst einmal angetreten, scheint alles möglich. Ellison schaut nicht einfach zurück, sondern verwebt den freien Gedanken des Fusion-Jazz mit neuen Elektro- und Hip Hop-Fäden. Bereits in "Never Catch Me" übernimmt der wie immer unzähmbar virtuose Kendrick Lamar das Mikro. "This that final destination / This that find some information / This that find some inspiration / This that crack, the instillation / This that quantum jump and that fist pump and that bomb detonation."
"You're Dead!" gleicht einem Origami-Hasen, der unruhig seine Haken schlägt und mit jedem Knick, jedem Falten, jedem Rythmuswechsel sein Gesicht verändert. Bereits "Dead Man’s Tetris" vollführt eine weitere berauschende Wende. Eine verpixelte 8-Bit-Mutprobe, voller Beeps, Gimmicks und Gewehrsalven. Snoop Dogg und Ellisons Alter Ego Captain Murphy treffen bei ihrem Ausflug ins Jenseits auf Freddie Mercury, Peralta und J Dilla. "Hold up, hold up / Me and Dilla 'bout to blow some trees / Hold up, pass to Austin and to Freddie Mercury."
Die Band, bestehend aus dem verschlagenen Bassisten Thundercat, dem experimentellen Schlagzeuger Deantoni Parks und dem der Tradition von Albert Ayler und Ornette Coleman folgenden Tenorsaxophonisten Kamasi Washington bewegt sich meisterhaft durch ständig wechselnde Umgebung. Ebene um Ebene führen sie uns von den ersten Verwirrungen über den Tod immer tiefer in den Kaninchenbau. Bis sie schließlich in der psychedelischen Elegie "Your Potential//The Beyond", dem Niki Randa ihre interstellare Stimme leiht, mehr und mehr zerfließen.
Irgendwann muss auch Steven Ellison seine letzte Reise antreten. Den Soundtrack für seine Abreise hat er mit "You're Dead!" bereits mit 31 Jahren geschrieben. In den Mokkasins seiner Großtante und seines Großonkels John Coltrane hat Ellison ewige Kunst erschaffen. Das Album, das uns Radiohead seit langer Zeit versprechen, es aber niemals fertig bringen werden. Ein Schwindelanfälle auslösender Rausch, dem Millionen Ideen innewohnen. Metaphysischer Jazz, gepaart mit Hip Hop, voll verwirrender Schönheit. "I can see the darkness in me and it's quite amazing / Life and death is no mystery and I wanna taste it."
6 Kommentare mit 6 Antworten
Hat zwar etwas gedauert, aber Danke für die schöne Review
Danke. Der Autor, der den Text eigentlich schreiben wollte, kam leider zeitlich nicht dazu. Ich habe sie jetzt erst Ende der Woche auf den Tisch bekommen und brauchte naturgemäß erst einmal ein paar Durchläufe. Für mich ein klarer Anwärter für die Top 3 des Jahres.
Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.
Ja, ein paar Durchläufe hat es bei mir auch gebraucht. Das Album kam ja auch ca. in einer Reihe mit den neuen Alben von Aphex Twin und Thom Yorke heraus. Während mich das Album von Thom Yorke schnell gelangweilt hat, finde ich derzeit auch das von Flying Lotus am Besten (bei dem Aphex Twin bin ich mir noch nicht ganz sicher, wie ich das insgesamt einordnen werde). Mal schauen was der Rest des Jahres noch so bringt, bisher sind meine Top drei ziemlich eindeutig von Swans, Flying Lotus und John Frusciante
Zwei weitere gute Anwärter, wobei meine Top 3 im Moment noch anders ausschaut. Aber mal schauen, was bis zu den Listen noch passiert.
Ja, geiles Teil! Hier scheinen für mich auch alle bisherigen Einflüsse am besten in ein Gesamtpaket integriert zu sein.
Ist es besser als "Until the Quiet Comes?"
Anders. Deutlich Jazzlastiger. Was mir persönlich entgegenkommt.
Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.
Mit dem Review hast bei mir Türen eingerannt, danke SK. Letzte mal ist mir das bei einem Meilenstein (http://www.laut.de/Keith-Jarrett/Alben/The… ) so gegangen. Die Überschrift hat mich neugierig gemacht, also an das Ding, nichts blick. Wie ein Ochse vorm Berg. Das kann doch nicht sein??? Der SK ist doch nicht bescheuert u. ich eigentlich auch nicht. Dauerrotation! Als ich dann Freddie las und verstand (mit Übersetzungsprogrammen und Copy And Paste hat´s etwas gedauert) wie der Track läuft (gemeint war), war das nahezu eine Offenbarung. Wobei laufen wohl eher mit schlendern in meinem Hirn übersetzt wird. Wunderbare Reise, das gesamte Album. Hat Alt-J erstmal aus meinem Player verbannt.
Gruß Speedi
P.S.: Würde gerne wieder gescheit quoten, nur beherrsche ich die Forensbefehle dafür nicht bzw. in einem "richtigen" Forum kann man oft eine Befehlleiste dazu schalten. Mir fehlt auch edit z.b., mir fehlt hier das Forum wirklich, leide wie ein Hund.
Bei aller Liebe aber die Spieldauer ist ein schlechter Witz. Künstlerische Freiheit hin oder her, aber 38 min ist ne Frechheit. Ansonsten geniales Album.
Spieldauer wär mir noch egal, aber dass es unbedingt eine Doppel Lp werden musste? Jetzt kann man alle 10 Minuten aufstehen umdrehen gehen.
Naja, das Artwork macht es dann wieder wett. Selten so aufwändig gestaltete Covers gesehen.