laut.de-Kritik
Zwischen Mystik, Obskurität und absoluter Eingängigkeit.
Review von Markus BrandstetterDie Klangwelt der Claire Elise Boucher ist eine wundersame, bunte. Und sie hat vor dem großen, vermeintlich bösen Mainstream keine Angst. Ganz im Gegenteil. Man erinnere sich beispielsweise an die "Kontroverse" um ihre "Best of 2012"-Playlist, die zum Missfallen einiger Geschmäckler und Geschmäcklerinnen auch Taylor Swift, Psys Gangnam Style, Lana Del Rey und Justin Bieber enthielt. Mariah Carey nannte sie in einem Essay an die Kritiker/Hater (hier nachzulesen, sehr empfehlenswert) überhaupt den Grund, warum es Grimes in dieser Form gibt. Grimes schielt nicht nach dem Mainstream sondern spielt damit, bedient und konstruiert aus allen möglichen Ecken und Blickwinkeln und schafft somit mitreißende und im wahrsten Sinne des Wortes kontemporäre Popmusik.
Dass Boucher die verschiedensten Spiel- und Produktionsarten genau analysiert, sich angeeignet und zunutze gemacht hat, kommt auf "Art Angels" vollendet zum Vorschein. Nachdem sie ihr 2012 erschienenes Album "Visions" in wenigen Wochen auf dem Apple Standard-Programm GarageBand produzierte und damit zum Pop-Liebkind der progressiveren Sphären avancierte, hat sie sich auch auf ihrem vierten Longplayer nicht lumpen lassen und hielt nicht nur alle Produktions- und Aufnahmegeschicke in eigenen Händen (von GarageBand ist sie mittlerweile übrigens auf Ableton Live gewechselt), sondern lernte auch eine Reihe an Instrumenten zu spielen, um neue Ideen und Klangfarben umsetzen zu können.
"Art Angels" ist ein ständiger Spagat, ein ständiges Ausloten, unter Strom stehen. Drones und Bubblegum-Pop, verzerrte Single-Line-E-Gitarren, knarzende Beats und sonnengetränkte Harmonien, Electronica, Synthesizer, Hip Hop. Eine dringliche, kurze Streicherouvertüre eröffnet, ein Klavier lässt Akkorde liegen, Boucher singt sirenenhaft. Deutlich unter zwei Minuten liegt "Laughing and Not Being Normal", der Opener des Albums, ein atmosphärisch vielschichtiges Intro, darauf folgt das ungemein eingängige California. Dann übernehmen verzerrte, rudimentäre E-Gitarrenlicks, für "Scream" featured sie die taiwanesische Rapperin Aristophanes.
Mit "Flesh without Blood" schüttelt sie den perfekten Popsong aus dem Ärmel, bei "Belly Of The Beat" legt sie noch mal nach. "I've been thinking / Everybody dies, we cut out their eyes and we dance like angels do / Breaking our name in a world that feigns some knowledge of you" heißt es da. Überschwänglichkeit, Groteske, Aggression, Obskurität, Schmerz, Melancholie - auch emotional ist "Art Angels" ein ständiger Informationsfluss. Und die Informationsdichte ist enorm.
"Venus Fly" ist ein surrealer Cheerleader-Dancetrack, "Kill V. Maim" ein 80er-Jahre-Synth-Song aus der Perspektive von Al Pacino, der einen Vampir spielt (großartige Themenvorgabe!), "Life In A Vivid Dream" ein atmosphärisches, anderthalbminütiges Balladenintermezzo, ehe mit "Butterfly" wieder so ein Popsong in Überdimension den musikalischen Bewusstseinsstrom zu einem Ende führt.
Dass das alles Pop sei, will Grimes nicht hören - es sei ohnehin unmöglich, sie in ein Genre zu stecken, auch wenn man das stets versuchen würde, meinte sie im Zuge der Veröffentlichung. Recht hat sie. Grimes hat ein Universum an Musik kanalisiert, sich zu eigen gemacht. Ihre Klangschaften bersten vor Details, ihre Songs changieren zwischen Mystik, Obskurität und absoluter Eingängigkeit. Diese meilenweite Öffnung auf "Art Angels" war nach "Visions" der nächste logische Schritt für Grimes. Sie ist ihn konsequent und bravourös gegangen.
12 Kommentare mit 27 Antworten
Ihr habt dieses tolle Album einfach vergessen.
VÖ: 11.12.2015
Der CD-Release. Aber ich streame es schon seit vorletzten Freitag. Mir macht das Album gerade viel Laune im Ohr.
Voila.
Nach 6-7 Hördurchgängen sind ein paar echt coole Popsongs drauf, aber die klangliche Tiefe von Visions sagt mir insgesamt mehr zu. 3-4/5
Und hört mal in Gazelle Twin rein. Die ist schroff, experimentell, anders und hatte letztes Jahr ein fantastisches Album hingelegt.
Track 6 ist der oberwahnsinn. So geb ich mir gerne Popmusik. Scheppert ordentlich.
Ich hatte mit Grimes das gleiche Gefühl wie bei Björk. Einfach eigen und doch süchtigmachend.
Check mal Kimbra Johnson.
Dieser Kommentar wurde vor 8 Jahren durch den Autor entfernt.
Die Euphorie zu Beginn hat sich inzwischen wieder gelegt. Würde mittlerweile eine 4 vergeben, gegen Ende geht da doch etwas die Luft aus, das (leider) viel zu kurze "Life in the Vivid Dream" ausgenommen. Trotzdem ein schönes Pop Album, welches sich vor dem ebenfalls gelungenen "Visions" nicht zu verstecken braucht.
Heftiges Album. Hab mich etwas schwer getan mit dem reinhören, vermutlich der quietschig-hohen Stimme wegen. Dafür komm ich jetzt gar nicht mehr davon los. Stellt andere Pop-Alben der letzten Jahre, die ich, einer spontanen Laune folgend, jüngst mal nachgeholt habe (Bat For Lashes, Miike Snow, Dillon), locker in den Schatten. Kenne keinen der Vorgänger, aber das ändert sich in den nächsten Wochen garantiert. So beeindruckt wie hiervon war ich jedenfalls schon länger nicht mehr...