laut.de-Kritik

Phänomenologie im Hexenhaus.

Review von

"Ich mag die Idee einer Kultur, die auf reiner Ästhetik basiert." Was Claire Boucher in einem Pitchfork-Interview so beiläufig mitteilt, fasst ihr Selbstverständnis präzise zusammen. Als "Post-Internet-Artist" bedient sich die Kanadierin ganz unbefangen aus der Kulturmasse der Online-Welt. Erscheinungs- wie Soundbild setzt Grimes ununterbrochen aus gefundenen Fragmenten zusammen, weil sie "seit der Kindheit Zugriff auf alles hatte".

Für die Optik bedeutet das mal rote, blonde, brünette, schwarze, dann wieder anrasierte oder bunt gefärbte Haare. Beim Fotoshoot war man gestern noch Cyborg-Goth im Fake Fur, ist heute Todesengel mit Schoßhund und morgen überdrehtes Ravemädchen. Dieses Prinzip der ultimativen Wandelbarkeit erinnert nicht bloß ungefähr an Lady Gaga. Genau wie Gaga hat es die 23-Jährige in Windeseile zur Fashion-Ikone geschafft, und auch im Sound gilt das Gebot der freien Rekombination.

Das clusterhafte Popverständnis erlaubt es ihr, Einflüsse wie Mariah Carey und Cyndi Lauper, Chopin-Partituren und Operesken, New Age-Enya, billige HipHop-Beats und Rave-Fanfaren fast nahtlos zu vermendeln. Dafür greift sie ausgiebig auf spooky-jenseitige Vocals und zugehörige Manipulatoren, vor allem anderen aber auf Fernost zurück: Synthesizer und Grimes' äußerst kindhaftes Falsett referieren regelmäßig auf J- und K-Pop. Genre-Importe übrigens, deren Relevanz für Witch House nach der Salem-LP hiermit erneut unterstrichen wird.

Gerierten sich die Tracks der selbstveröffentlichten Vorgänger "Geidi Primes" und "Halfaxa" noch regelmäßig eher als experimentelle Skizze, hat Grimes diesmal ein paar Terrabytes Pop über Glasfaser ins Schlafzimmer geladen. "Visions" gelingt der seltene Spagat zwischen reduzierter elektronischer Versuchsanordnung – Vocal Pedals, Keyboard, Sampler, Sequenzersoftware – und einem ausufernden Pop-Appeal.

In Momenten beinahe in Yo-Landi Vi$$ers Stimmlage, ansonsten gern mit Robyn auf Augenhöhe, leihen sich die besten "Visions"-Momente ("Be A Body", "Vowels=Space And Time") eine unnachgiebige Zugänglichkeit, ohne darüber die grundlegende Weirdness der in Montreals DIY-Kunstszene erwachsenen Boucher zu ersticken. Das Album prahlt mit eingängigen Hooks, knüpft sie aber an eine digitale LoFi-Ästhetik, schon weil es für Perfektionismus viel zu sprunghaft ist.

Gerade in dieser Volatilität der Stilebenen erreicht Grimes ästhetische Formvollendung. Die widersprüchlichen Referenzen an Genres und Gefühlszustände gehen auf, weil sich die Künstlerin konsequent auf eine Meta-Authentizität beruft: Nicht als schöpferisches Genius möchte die Kanadierin verstanden werden, nicht als Sinnstifterin in semantischer oder emotionaler Hinsicht. Sondern als Sammlerin digitaler Fragmente und Kompositeurin in sich schlüssiger Soundcollagen.

Es sind bekanntlich Archetypen, die uns einen bestimmten Songmoment z.B. als sehnsüchtig wahrnehmen lassen. Zu Bouchers nächster Geistesverwandtschaft zählen daher sowohl Ambient-Produzent Oneohtrix Point Never, der sich auf seinem jüngsten Werk analytisch mit Begriff und Gestalt musikalischer Nostalgie auseinandergesetzt hat, als auch Lana Del Rey. Letztere mag sich, vermutlich aus kommerziellen Gründen, noch auf Schöpfertum berufen. Tatsächlich rückt jedoch auch in Del Reys Musik ein geschmeidiger Nostalgie-Ästhetizismus an die Stelle des authentischen Ich-Erzählers.

Trackliste

  1. 1. Infinite Love Without Fulfillment
  2. 2. Genesis
  3. 3. Oblivion
  4. 4. Eight
  5. 5. Circumambient
  6. 6. Vowels=Space And Time
  7. 7. Visiting Statue
  8. 8. Be A Body
  9. 9. Colour Of Moonlight (Antiochus) (feat. Doldrums)
  10. 10. Symphonia IX (My Wait Is U)
  11. 11. Nightmusic (feat. Majical Cloudz)
  12. 12. Skin
  13. 13. Know The Way (Outro)

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