laut.de-Kritik
Musikalische Weltreise im Zeitraffer.
Review von Manuel BergerStell dir vor, du sitzt im Bierzelt, Maßkrug vor der Plauze, Menschen tanzen ausgelassen auf dem Tisch, weiter vorn spielt ein Lederhosentyp auf seiner Ziehharmonika den "Zillertaler Hochzeitsmarsch". Plötzlich stapft ein Kerl mit zwanzig Zentimeter langen Nagelnieten auf der Lederjacke, schwarz-weißer Schminke und grimmigem Blick im Gesicht auf die Bühne, hockt sich ans Schlagzeug und fängt an zu blasten. Der Lederhosentyp zieht das Tempo an, pumpt sein Akkordeon bis ihm der Schweiß sichtbar auf der Stirn steht. Die Leute tanzen weiter, schneller, viel schneller und jubeln einem Dritten zu, der jetzt seinen E-Bass hervorkramt und einen wahnwitzigen Funk-Lauf slappt. ("Musette Maximum")
Szenenwechsel. Irgendwo auf einem verschneiten Berggipfel huscht ein Hexenmeister über seine Hang-Trommel. Sie ist Teil eines unbekannten Rituals. Die Beschwörung klappt, eine Armee böser Geister fliegt herbei, einer ähnelt Abbath, der Himmel verdunkelt sich. Doch Rettung naht. Ein Portal öffnet sich und Elrond führt sein Elbenheer aufs Gletscherfeld – begleitet von diesen opernhaften Chören, die aus irgendeinem Grund in Fantasy-Filmen immer so inflationär benutzt werden. ("Himalaya Massive Ritual")
Szenenwechsel. Ein Schuhplattler läuft durch die Wüste. Eine orientalische Gitarrenmelodie will ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. In endlosem Loop hört er sie, sie macht ihn – zusammen mit dem Wassermangel – langsam verrückt. Da! Eine Fata Morgana! ("Camel Dancefloor")
Man könnte vermutlich ein ganzes Buch damit füllen, die vielen Facetten von Igorrrs viertem Album zu beschreiben. "Spirituality And Distortion" gleicht einer musikalischen Weltreise im Zeitraffer. Wie schon auf den Vorgängern sprengt der Franzose Gautier Serre jegliche musikalische Grenzen und verquickt für die meisten Komponisten unmöglich zu kombinierende Stile scheinbar mühelos. Black Metal, Nintendocore, Volksmusik aus aller Herren Länder, Klassik, Filmmusik, Jazz, Dubstep, Post Rock, Drum'n'Bass ... you name it. Egal, welche musikalische Fusion du dir vorstellen kannst, Igorrr hat sie vermutlich schon realisiert. Wenn er Technical Death Metal mit einem Cembalo spielen ("Nervous Waltz") oder das Gurgeln von George 'Corpsegrinder' Fisher (Cannibal Corpse) an einen Strang 8-Bit-DNA koppeln möchte ("Parpaing"), macht er das eben.
Um seine Ideen umzusetzen, versammelt Igorrr wie schon auf dem Vorgänger "Savage Sinusoid" eine ansehnliche Schar Gastmusiker um sich. Sie bringen Oud, Kanun, Geige, Klavier oder wie schon erwähnt Akkordeon und Cembalo mit. Wichtigstes Element neben dem Mastermind selbst ist Sängerin Laure Le Prunenec. Sie füllt mit ihrer wandelbaren Stimme opereske Passagen ebenso mit Leben wie satanische Formeln und folkige A-Cappella-Parts.
So entsteht ein schwer verdauliches, in seinem Detailreichtum überwältigendes und ungemein spielfreudiges Werk. So verkopft und technisch die Stücke manchmal wirken, so intuitiv gestaltet Igorrr sie dennoch oft. Als vertone er den stream of conciousness eines Wesens mit acht Gehirnen. Genießen kann man einen solchen Overload an Eindrücken kaum. "Spirituality And Distortion" zu konsumieren ist Arbeit. Und manchmal führt diese zu nichts anderem als reinem Selbstzweck. Frank Zappa kreidet man das allerdings auch eher selten an.
"Sich nur in einer einzigen Emotion zu verstricken, ist für mich sehr langweilig", erklärt Igorrr den Wahnsinn des Albums. "Das Leben ist eine große Bandbreite an Emotionen – manchmal ist man glücklich, manchmal traurig, wütend, sauer, nostalgisch oder wie weggeblasen. Das Leben ist nicht nur eine Farbe. Diese 14 Tracks sind eine Reise durch verschiedene Gemütszustände, die ich durchlebt habe."
3 Kommentare
Gutes Zeug.
Absolutes Meisterwerk!
Da schließe ich mich an. Grandioses Album.