laut.de-Kritik

Eine Peak für K-Pop: So kommerziell, dass es schon wieder Gegenkultur ist.

Review von

Mit welcher Musik kann die Jugend ihren Eltern noch so richtig Angst machen? Das ist eine wichtige Frage, 2018 hat die Welt immerhin schon so einiges gesehen. Mit Gangster-Rap, hartem Metal oder Absturz-Techno kann man allenfalls konservative Erzeuger noch erschrecken. Es gibt jedoch einen aufkommenden Musikstil, der in seiner Angepasstheit, seiner puren Kommerzialität, seiner fast vulgär unreflektierten Werbeflächen-Ästhetik auch das alternativste Alt-68er-Elternteil vor Schreck aus den Birkenstocks kippen lässt: K-Pop.

"[+ +]" von der zwölfköpfigen Girlgroup LOONA gehört zu diesen Projekten, an denen man den ambivalenten Reiz der koreanischen Mainstream-Musik wunderbar nachvollziehen kann. Für gerade einmal sechs Titel wurde eineinhalb Jahre mit Promo-Singles und Hunderten Bonusclips Spannung aufgebaut. Der virale Erfolg der Singles "FavOriTe" und "Hi High" scheint die Taktik mit Erfolg zu belohnen.

Das Album mit dem "Plus Plus" ausgesprochenen Titel kommt enorm glatt und rund daher. Zwar sind die Stimmen der Sängerinnen durchaus zu unterscheiden, aber in Produktion wie Songwriting fließen sie alle in eine Idee zusammen, die dem grundlegenden Gedanken von Subkultur zu widersprechen scheint: Konformität. Wie viele K-Pop-Bands, setzen LOONA auf Sound, der auf dem Papier jedem gefallen könnte, der wegen seines Framings jedoch wiederum nur eine gewisse Nische anspricht.

Schon der instrumentale Intro-Skit "+ +" baut eine Stimmung auf, die dem Hörer nichts vormacht. Aalglatte Synthesizer, sommerlich-künstliche Gitarrenlicks und digitales Fingerschnipsen klingen nach Kygo oder Major Lazer, erst die kontinuierliche Veränderung der Melodien und das Layering von Flüstervocals und manipulierten Pfeif-Samples kristallisieren das erdrückende Verkaufsargument heraus: Kompetenz.

Kompetenz geht oft mit Seelenlosigkeit einher. Aber das Aufregende an "[+ +]" ist, wie bewusst es sich seiner Seelenlosigkeit scheint. Die Durchbruch-Single "Hi High" macht mit vollem Bewusstsein absolut nichts, das man experimentierfreudigen Pop nennen könnte, aber bombardiert den Hörer regelrecht mit unglaublich kompetent angewandten Konventionen.

Drumroll, Rise, Breakdown, Bridge, Afterhook, mit der Variaton der Sängerinnen, ihrem intriganten Zwischenspiel und Layering kommen so viele Ideen und Momente zusammen, dass "Hi High" wie zehn Pop-Songs auf einmal klingt, ohne auch nur einem davon eine Sekunde nicht gerecht zu werden. Noch intensiver wird es auf "FavOriTe", vielleicht dem Highlight des Albums.

Dieser Hip Hop-inspirierte Track ist ein Banger nach allen Regeln der Kunst, der neben den treibend harten Percussion-Grooves einen mitreißenden Aufbau in den Refrain zimmert, der den perfekten Payoff für einen meisterhaft verwendeten Spannungsbogen im Track bietet. Die Afterhook schwingt mit Chiptunes und melancholischeren Tönen zurück, kurzer Verse, zurück in die Bridge, zurück in die Hook, fertig.

Die große Stärke von "[+ +]" könnte als das fantastisch verstandene Umschiffen von Fett im Song verstanden werden. Jeder Song dauert keine Sekunde länger als er muss, keine musikalische Idee bleibt so lange im Ring, dass sie den Hörer langweilen kann. Auf einer Nummer wie "FavOriTe" steigert das den Wiederhörwert ins Unermessliche, gerade dann, wenn hier auch die Einzelcharaktere der Sängerinnen beeindruckend kompetent ausgespielt werden.

Wer die im Rollout entstandenen Einzeltracks gehört hat, wird nämlich erkennen: Die tragenden, voluminösen Stimmen stammen von Haseul, Kim Lip und Yves, die melancholischere Textur der Bridge bringen Olivia Hye und Heejin zustande, die schrillen, hohen Chants steuern Chuu und YeoJin bei, die Adlibs (besonders das Song-definierende, herrliche "Rrrrrrrrra!" im Refrain) kommen von Go Won.

Tracks wie "Heat" oder "Stylish" beweisen weiterhin, wie sehr die lange Promotion sich gelohnt hat. Im sonst zu Uniformität neigenden K-Pop-Genre bewahren LOONA die Individualität aller zwölf Stimmen, ohne in die Behemoth-haftigkeit der eigenen Möglichkeiten zu verfallen. Auch hier ist wieder Kompetenz das Stichwort: Kompetenz im Songwriting, Kompetenz in der Verteilung der Dynamiken, Kompetenz in der Dramaturgie.

"Perfect Love" zum Beispiel wird sogar in der Eigenbeschreibung der Plattenfirma als "kommerziell klingend" charakterisiert. Ist das jetzt schlecht? Blödsinn! Die handzahmen, aber treibenden Synthesizer-Licks demonstrieren eindrucksvoll, wie dieser gewisse Plastikschimmer der Popmusik, den westlicher Pop immer zu leugnen versucht hat, hier schamlos zum tragenden Element der Ästhetik erklärt und so gnadenlos gerockt wird.

Etwas Ähnliches passiert mit einem eigentlich generischen EDM-Drop auf "Heat". Auf "[+ +]" bleibt kein Song über vier Takte gleichförmig, das Gewirr der Stimmen hält die Energie konstant am Leben. Outro "Stylish" greift auf die Ko-Produktion der noch eher unbekannteren Londonerin OhEm zurück und schafft einen Song, der klingt, als habe Zedd nach "The Middle" versucht, einen Let's Eat Grandma-Beat zu machen.

Wie viele K-Pop-Acts füllt "[+ +]" von LOONA ein Vakuum auf, das westlicher Pop gerade nicht besetzt. Pop, der sich seiner eigentlichen Künstlichkeit nicht entziehen will, der den Kommerz so bewusst auf der Brust trägt, dass die Warenförmigkeit schon wieder subversiv mit der Ästhetik zusammenfließt und einen Vibe erzeugt, wie man ihn bisher nicht kannte. Es hat fast etwas Postironisches, wie hier die Leere eines Werks zum Inhalt desselbigen geworden ist.

Oder, anders formuliert: "[+ +]" ist ein kurzes Album, das von hinten bis vorne nichts als radikale, kompromisslose Banger enthält. Es ist hirnlos, absolut seelenlos und biedert sich schamlos beim Hörer an. Trotzdem macht gerade weltweit nirgendwo jemand auch nur annäherungsweise derart kompetente Popmusik wie in Südkorea, und im schrägen Feld des K-Pops erscheint derzeit keine Band so aufregend wie LOONA. Wer Pop hören will, kommt um dieses Tape nicht herum.

Trackliste

  1. 1. + +
  2. 2. Hi High
  3. 3. FavOriTe
  4. 4. Heat
  5. 5. Perfect Love
  6. 6. Stylish

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8 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Yannik macht eine zweifelhafte musikalische Entwicklung durch, BEP-Style :koks: :D

  • Vor 6 Jahren

    Zum Glück distanzieren sie sich mittlerweile von "Bailando".

  • Vor 6 Jahren

    "Kompetenz geht oft mit Seelenlosigkeit einher. Aber das Aufregende an "[+ +]" ist, wie bewusst es sich seiner Seelenlosigkeit scheint."
    ...
    "Pop, der sich seiner eigentlichen Künstlichkeit nicht entziehen will, der den Kommerz so bewusst auf der Brust trägt, dass die Warenförmigkeit schon wieder subversiv mit der Ästhetik zusammenfließt und einen Vibe erzeugt, wie man ihn bisher nicht kannte. Es hat fast etwas Postironisches, wie hier die Leere eines Werks zum Inhalt desselbigen geworden ist."

    Junge, junge, für solche Sätze gehörst du ganz ehrlich eigentlich einmal pädagogisch den Österberg heruntergeschubst..

    Ansonsten habe ich mir tatsächlich mal die beiden hervorgehobenen Tracks gegeben und kann dir da in einigen Punkten sogar mehr oder weniger zustimmen, bin aber trotzdem natürlich alles andere als unkritisch. Vielleicht äußere ich mich da später nochmal im Detail zu und hoffe, dass du bis dahin aus Einsicht in deine Missetaten schon einmal selbstständig einen Hügel deiner Wahl heruntergerollt bist.

    • Vor 6 Jahren

      glaub mir, seit diese weirde k pop phase bei mir angefangen, hab ich mich schon aus scham ein paar mal alle möglichen tübinger hügel runtergeschmissen. Ich bin ja auch echt nicht stolz drauf. Die Review ist so ein wenig mein Coping Mechanismus, um vor mir selbst zu rechtfertigen, wie ich auf diesem mist so fundamental hängenbleiben konnte. Aber es ist halt, wie es ist, fürchte ich

    • Vor 6 Jahren

      Aha, HGich.T hat dass noch besser auf dem Punkt gebracht, und nur 1 Stern?

    • Vor 6 Jahren

      Joa, ne, versteh' mich nicht falsch, mein Kommentar war jetzt mehr auf die Foemulierungen bezogen, als deine generelle K-Pop Affinität. Wenn's dich abholt, dann sei's dir auch gegönnt.
      Als eigene Erklärungsmuster machen solche Formulierungen vielleicht auch mehr Sinn, weil man Positionen wie "so kommerziell, dass es Gegenkultur ist" halt nur aus der westlichen Perspektive Sinn machen. Im heimischen und eigentlich angedachten Markt ist es halt nur "Kultur" und keine Gegenkultur und bewusst subversiv oder auf Meta-Ebene angelegt, ist da wahrscheinlich gar nichts. Aber vllt kannst du das hier auch besser beurteilen, habe mich mit der Band ja nicht wirklich beschäftigt.

      Ansonsten ja, soundtechnisch bin ich auf Basis der Hörproben mehr oder weniger bei dir. Selbst für K-Pop-Verhältnisse extrem kompetent und handwerklich gut gemacht. Auch das Soundbild gefällt mir eigentlich erstmal sehr gut. Beats, Synths etc klingen alle verhältnismäßig irgendwie "dünn", was ich aber verglichen mit dem sonst so mit fetten/bunten/zuckrigen Sounds überfrachteten deutlich besser finde. Die einzelnen Stimmen und kleinem Details, Songaufbau etc kommen dadurch für mich auch viel besser zur Geltung. Weiß nicht, ob das als Leser grad Sinn macht, was ich hier schreibe.
      Abholen tun mich beide Songs trotzdem nicht. Hi High nicht, weil es mir ehrlich gesagt schwer fällt als Person, die kein pubertierendes Mädchen ist, so etwas zu feiern. Und Favorite scheitert für mich letztlich daran, woran fast alle K-Pop Songs letztlich für mich scheitern. Ich weiß einfach nicht, was der Song "mir sagen" soll. Soundbild gefällt mir wie gesagt eig. und auch die Spannungswechsel kann ich als kompetent gemacht anerkennen. Ich kann dahinter aber keinerlei kohärente melodiöse oder emotionale Dramaturgie erkennen, nichts woran ich mich emotional irgendwie aufhängen oder den Song emotional "durchleben" könnte, da bringen mir dann alle Spannungswechsel oder einzelne catchy Parts der Welt nichts. Seelenlos trifft's da am Ende schon ganz gut.
      Finde ich in dem Fall schade, weil ich hier das Gefühl habe, dass zu 'nem wirklich rundem Song echt nicht mehr viel fehlt und es sonst echt ein richtig smoothes Teil sein könnte.

      Weiß jetzt aber nicht, ob du da irgendeinen Sinn aus meinen Ausführungen extrahieren kannst oder es dich oder sonstwen überhaupt interessiert. Sonst spar ich mir den Essay zum nächsten Mal wieder.

    • Vor 6 Jahren

      Ja doch, ich verstehe total, wie es dir damit geht, hab auch gerade kurz mit toni darüber geschrieben. Ich glaub das Ding ist tatsächlich, dass ich einen ziemlichen Headstart hatte, mich mit K-Pop zu beschäftigen, weil ich vor 2 Jahren mal kurz ausversehen Koreanistik studiert habe und das damals für die furchtbarste Sache der Welt gehalten habe. Aber irgendwie wars ab da auch Freundeskreismäßig immer irgendwie präsent und ich hab glaub ich viel Zeit gehabt, mich in die ästhetik und Stimmung von der Musik reinzudenken. Ich glaub es war die Tatsache, dass Loona dann dieses Grimes-Feature hatte, das mich nochmal gezwungen hat, mich genauer hinzusetzen und zu versuchen, wirklich zu verstehen, was da vor sich geht und ich glaube, das war der Moment, in dem es fatal und endgültig für mich geklickt hat.
      Und ich glaub diese Faszination in ner Review auszudrücken, das war so ein wenig mein Ziel. Diese Faszination am völlig überpräzise Künstlichen, am Konstruierten. Es ist irgendwie mehr Pop als Pop. Und ich versteh jeden, der sich das anschaut und erstmal völlig abgeschreckt davon ist, ging mir ja vor ner ganzen Weile genau so. Aber ich glaube trotzdem, dass es ein total interessantes Genre und ein total faszinierendes Phänomen ist, weil es Pop nochmal an Grenzen bringt, die wir so vielleicht nicht gesehen haben. Kann Leuten natürlich nicht abnehmen, sich darauf einzulassen und ich seh ein, dass das echt nicht einfach ist (und moralisch wahrscheinlich auch ein bisschen fragwürdig wenn man bedenkt, wie hart die Idols gedrillt werden). ich wollte aber erklären, wie ich meinen Zugang dazu gefunden habe und wie ich ihn für mich erkläre.

    • Vor 6 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 6 Jahren

      Sich über die fehlende artgerechte Haltung von K-Pop Idols zu empören ist echt ultra woke.

    • Vor 5 Jahren

      "um vor mir selbst zu rechtfertigen, wie ich auf diesem mist so fundamental hängenbleiben konnte. " Kapier ich nicht wieso man so schizo sein kann ;) Es gibt keine Grund sich zu schämen, weil man Kpop mag - see you on an Twice-Concert !