laut.de-Kritik

Power, Corruption und LGBT: Queere Liebe statt Patriarchat.

Review von

Auf Zurückhaltung zugunsten allseitiger Harmonie hat sie schon länger keinen Bock mehr. Sind ja auch nicht gerade die harmonischsten Zeiten. Schon vor zwei Jahren sang Marika Hackman unverschlüsselt davon, einem Typen die Frau auszuspannen, für den gleichgeschlechtliche Liebe sowieso "nicht zählt". Geht ja sicher irgendwann vorbei, sowas. Um ihren Standpunkt zu visualisieren, zeigte das Cover der "Boyfriend"-Single eine aufgeschnittene Gurke. Juppiduh, schallalala.

Das Cover ihres dritten Albums "Any Human Friend" macht genau da weiter: Man sieht die britische Sängerin halbnackt, nur mit Feinripp-Unterbuchse und Socken bekleidet, ein Ferkel tragend. Ein Motiv, für das sie sich von der Holländerin Rineke Dijkstra inspirieren ließ, die mit Aktfotos junger Mütter direkt nach der Geburt für Aufsehen sorgte. Ein starkes Cover wider den im Mainstream-Pop nach wie vor gängigen Schönheitswahn, ein Statement gegen Heilerde, Avocado-Masken, wegretuschierte Falten und professionelle Bildbearbeitung.

Während auf Instagram immer noch Katzen den Ton angeben, rückt Hackman beinahe unbemerkt das Schwein ins Zentrum, ein zu Unrecht als faul und dreckig beleumundetes Tier. Das Bild funktioniert wie ein visueller Aufruf an den Hörer und Betrachter: Suhle dich nicht in Klischees, hinterfrage deine eigenen vorgefassten Meinungen. Was sich ansatzlos als Ratschlag für die politische Rezeption im Jahr 2019 übertragen ließe, beschränkt sich bei Hackmann auf den zwischenmenschlichen Bereich, da gibt es schließlich auch noch genug Missverständnisse.

Ihren selbstbewussten, kecken Ton hat die 27-Jährige beibehalten. Ein Song wie "All Night" handelt schlicht und ergreifend von der Freude an gleichgeschlechtlichem Sex, und er kommt aus dem Mund einer Frau, eine im Pop seltener gehörte Rahmenhandlung als jene über Heterosex aus dem Mund eines Mannes: "We go down on one another / you're my favourite kind of lover / with your kissing eating fucking moaning / kiss it eat it fuck it all night." Als Hackman den Song ihren fortschrittlichen, empathischen Eltern vorspielte, sei die Reaktion dennoch verhalten euphorisch gewesen.

Dabei will Hackman "Any Human Friend" gar nicht als tabubrechendes Manifest für das moderne Leben von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender verstehen. Vielmehr hatte sie einfach Spaß an dieser unverblümten Art des Textens: "Ich tauche förmlich in mich selbst ein und ziehe Hautschicht um Hautschicht ab, entblöße mich recht großflächig." Sollten ihre Worte dennoch Hörer irritieren, sagt das viel mehr Einiges über den gesellschaftlichen Status Quo in 2019 aus. Die Platte ist eine Art "Power, Corruption & LGBT", statt mit Folkrock bandelt Marita diesmal ausgiebig mit Synthie-Pop an.

Das introspektive Gitarren-Picking in "Wanderlust" führt auf die falsche Fährte, anschließend präsentiert "The One" ihre im Studio entdeckte Experimentierlust mit elektronischen Geräten. So provokant und edgy ihre Texte, so infektiös der Sound. Mit großer Indie-Sensibilität verabschiedet sie ihre gitarrenlastige Vergangenheit für eine 80s-Sound-Melange, die so natürlich rüberkommt wie sie selbst. Neben den Upbeat-Hits "The One" und "I'm Not Where You Are" betören das erwähnte "All Night" mit intimer Melancholie und das mit Frank Ocean-Synthwärme überzogene "Hold On".

Etwas beliebig gerät "Hand Solo", das dafür die schöne Zeile enthält: "I gave it all / but under patriarchal law / I'm gonna die a virgin." Hackmans 'big dick energy' strömt aus jeder Songpore, und angesichts der von männlicher Seite virulenten Benutzung der Vokabeln "bitches" und "hoes" lässt sie es sich dann auch nicht nehmen, den "dick" als Sinnbild der Potenz auf ihren eigenen Körper zu übertragen.

Insgesamt gelingt "Any Human Friend" als einnehmender Rage Against The Patriarchat, und nach ihren Support-Shows bei der Europa-Tour von Alt-J zum letzten Album bleibt nur zu hoffen, dass die Britin ihre kompletteste Songsammlung bisher auch in unseren Breiten live vorstellt.

Trackliste

  1. 1. Wanderlust
  2. 2. The One
  3. 3. All Night
  4. 4. Blow
  5. 5. I'm Not Where You Are
  6. 6. Send My Love
  7. 7. Hand Solo
  8. 8. Conventional Ride
  9. 9. Come Undone
  10. 10. Hold On
  11. 11. Any Human Friend

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7 Kommentare mit 15 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    Vorbildlich, Herr Schuh! Alle Signalwörter in der Unterzeile untergebracht!

  • Vor 5 Jahren

    Der Vorgänger war klasse.

  • Vor 5 Jahren

    Sind wir hier bei der Spex oder ist Laut.de auch auf Feldzug gegen das heteronormative cis-gender Patriarchat?

    • Vor 5 Jahren

      Immer wieder witzig zu sehen, wie einige Leute von solchen Überschriften getriggert werden.

    • Vor 5 Jahren

      Immer wieder witzig zu sehen wie einige Leute von Spott über ihre religiösen Überzeugungen getriggert werden.

    • Vor 5 Jahren

      Musik ohne Zielgruppe wird nicht wahrgenommen und verkauft sich nicht. Letztlich wird hier nur ein Produkt an eine bestimmte Zielgruppe vermarktet, die sich über Kriterien wie „Anderssein“, Antihaltung und Individualismus definiert. In der Geschichte der Populärmusik eigentlich ein sehr alter Hut, nur die Zielgruppen ändern sich regelmäßig.

    • Vor 5 Jahren

      Nur dass manche Zielgruppen eigentlich schon immer da waren, ihnen das "Anderssein" mehr aufoktroyiert wurde, als dass es freiwillige Entscheidung war und der Individualismus und die Antihaltung dann schlicht notwendige Verteidigungsreaktionen sind, die ein halbwegs angenehmes Auskommen in einer von Antipathien geprägten Gesellschaft oft erst ermöglichen.
      Thanks for coming to my TED talk.

    • Vor 5 Jahren

      Ist halt normal, daß alles Mainstreamig-Popkulturelle schnell lächerlich gemacht wird. Hat ja auch seine Berechtigung. Gerade, wenn es berechnend wirkt. Jetzt sind halt auch mal ein paar LGBTQ+XXLH&M-Leute dran. Ist für mich auch ein Zeichen des Fortschritts.

    • Vor 5 Jahren

      Es gibt ein H&M für XXl-Träger?

    • Vor 5 Jahren

      Da du dem wiedersprechen kannst und deine Meinung auch nicht verboten ist, ist das Wort Feldzug völlig absurd. Compact, Junge Freiheit usw. sind alles keine verbotenen Magazine. Die meisten eher linken Medien teilen deren Meinung nur nicht. Wenn die meisten ihre Meinung nicht teilen aber die Meinung nachwievor erlaubt ist und die rechten nachwievor selber die Möglichkeit haben Print Medien zu erstellen, ist es völlig absurd von Meinungsdiktatur zu reden. Jeder hat nicht nur das Recht seine Meinung zu äußern, sondern auch andere Meinungen nicht zu vertreten und abzulehnen.