laut.de-Kritik

Mehrere Neuanfänge in einem.

Review von

Mellow Mark meldet sich zurück. Lange ist es her, dass er den deutschsprachigen Reggae im Pop vertrat. Auf dem Comeback "Rescue Love" bringt er nun die Spielart Afrobeats ein. Als er mir davon im Sommer erzählte und das ankündigte, befürchtete ich Schlimmes. Beim Anhören war ich dann angenehm überrascht und an einigen Stellen auch fasziniert.

Es ist ja gar nicht so leicht, wenn man jetzt nicht auf den Straßen von Lagos unterwegs ist, in einem europäischen Studio glaubhafte Afrobeats unterzubringen, dieses Derivat aus Dancehall-, Hip Hop-, House- und Afrofunk-Elementen. In "Rescue Män", "Sutsche" und "Sanitäta" flutscht die Afrobeats-Ästhetik leicht und ungezwungen aus den Lautsprechern. Produziert haben Bass Hamburg alle diese drei Tunes - Weggefährten aus Anfangstagen.

Als Weiterentwicklung der Hip Hop-Roots-Kreuzungen von Protoje und Yaadcore, lässt sich das wummernd bassblubbernde und zugleich in den Höhetönen klimpernde "Joe Black" auffassen, ein Highlight der Platte. Mark startet aber erst einmal ganz anders, mit glasklarem Electropop, in seinen Longplayer. Damit wird er sicher einige im - nennen wir es - Aluhut-überzeugten Puristen-Lager nicht so direkt abholen, aber denen kann man dann auch nicht helfen. Die sphärischen Electro-Beats passen zum ersten Satz der Platte, in "Nachtigall" - "ein Nachtdienst geht zuende." Der Singer/Songwriter ist jetzt "Sanitäta", gilt jetzt als "Rescue Män". Damit ist er womöglich sozialer engagiert als viele, die ihn als zu mainstreamig, Verräter der Gerechtigkeitsmusik Reggae und was-nicht-alles irgendwann mal abgetan haben.

Für ihn war der Wechsel in die Uniform ein "Neubeginn". Die Message des Liedes lautet "es ist nie zu spät für einen Neubeginn, gib dem Leben einen neuen Sinn (...) spread your wings wie ein Schmetterling". Im Showgeschäft war nicht mehr viel zu holen. "Ich hatte alles gegeben für die Musik", heißt es in diesem Song, "das Konto auf Kante im Minus." Zu den um sich greifenden Problemen, dass Streaming-Dienste Peanuts ausschütten und die Pandemie Solo-Selbständigen wie ihn unter existenziellen Druck setzte, kam, dass er sowieso immer auch andere Brot-Jobs ausübte. Denn lukrativ zeigt sich die zerbröselte German Reggae-Scene nach dem Seeed- und Nosliw-Peak schon seit ungefähr 2012 nicht mehr.

Was es wohl noch nie im weltweiten Pop-Zirkus gab oder mir zumindest nicht bekannt ist, das ist ein Konzeptalbum über den Beruf des Rettungssanitäters einschließlich Phänomenen wie "Falscher Alarm" oder die aktuelle Situation von Krankenhäusern, darüber, im Schichtdienst von Energydrinks und Tiefkühl-Pizza zu zehren und über Flirts am Arbeitsplatz unter diesen Menschen, die sehr aufeinander angewiesen und im Tandem auf Tour sind. Es geht um Joke-Anrufe in der Notruf-Leitstelle, um Hypochonder, Querulanten, um absurde Begleiterscheinungen, trocken, aber wirklichkeitsnah getextet: "Retter retten, doch wer rettet Retter? (...) Retter schleppen auch die Fetten über alle Treppen / Retter retten, Retter retten, rauchen Zigaretten in Ketten." - Inmitten der somatischen Symptome der Patienten kommen auch die mentalen Probleme zur Sprache, die Wartelisten in der Psychiatrie verlängern, Stichwort: toxische Abhängigkeit in Partnerschaften, Stress, Überforderung, Kollaps - alles, was nachts eskalieren kann.

"Tako Tsubo" als Dixieland-inspirierter Jazz-Pop-Soul mit einer dezenten Ähnlichkeit zu Tom Waits oder den Vaudeville-Ausflügen der Kinks fällt aus dem Rahmen und stretcht das Themenalbum stilistisch genauso breit zur Seite wie auch "KPFGFCKT ft. Xelif". Dieser Track hebt sich als Trip Hop-Ballade inmitten actionreicher Nummern auch gestalterisch ab. In "Bully ft. Ajani" mischt sich der Roots-Reggae der Strophen mit warmem Soul im Refrain, "Dienst Nach Vorschrift" ist süßer Salsa-Ska-Pop nach Art des Kollegen Savona.

Somit bleibt alles in allem genau ein einziger klassischer One Drop-Tune. Er hievt eine Frage aus der Covid-19-Zeit noch einmal an die Oberfläche, die Mark zugleich als Schlüsselfrage Bob Marleys versteht: "Warum Halten Wir Nicht Zusammen ft. Ajani". "Jeder kämpft für sich", konstatiert er da. Das schöne Lied wandelt ähnlich wie Sebastian Sturms letztes Album sehr originalgetreu auf den Spuren des Reggae der mittleren Siebziger, so hat auch Jimmy Cliff damals geklungen. Ajani McDowell hat das produziert, den man vielleicht noch als Keyboarder von Peter Fox, Samy Deluxe, Patrice oder Silly Walks kennt, und Ajani ist (neben Papa Curvin und dem kürzlich verstorbenen Wally Warning) einer der ältesten Hasen karibischer Musik in Deutschland.

Denkt man an Mellow Mark vor der langen Pause zurück, lagen ihm auch gesellschaftskritische Songs am Herzen, die für ökonomische Missstände und Ungerechtigkeit sensibilisieren. Auch jetzt bewahrt er sich das und rüttelt in "Tatütata" auf, kritisiert, dass "die Minister labern". Karl Lauterbach zum Beispiel, der sollte sich "Tatütata" anhören. Dann bekäme er einen Eindruck davon, wie sich seine letzte Reform auswirkt. "Das System kollabiert (...) manchmal schaffen wir es / Leben zu retten / doch die Krankenhäuser, sie haben viel zu wenig Betten. / Also wohin mit dem Patient? / Wieder eine Odyssee."

Weil das erklärungsbedürftig ist, ein kurzer Exkurs: Rettungssanitäter:innen bekommen angezeigt, welches Krankenhaus sie für welchen Fachbereich anfahren können. Dies bestimmt sich durch die offizielle Anzahl der freien Betten. Denn Personen, die mit dem Rettungsdienst kommen, werden häufig auch stationär da behalten. Verabschieden sich viele kleine Häuser mangels Rentabilität aus dem System, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die verbleibenden Notaufnahmen Anfahrtsstopp melden. Beruhigend ist das nicht. Dass Mellow Mark von dieser Front berichtet, war eine gute Idee. Obendrein punktet die Umsetzung, die so vielfältig ist, dass sie samt stilistischem "Neubeginn" viele Genres abgrast, und das auch noch super produziert.

Trackliste

  1. 1. Nachtigall
  2. 2. Tatütata
  3. 3. Rescue Män
  4. 4. Sanitäta
  5. 5. KPFGFCKT ft. Xelif
  6. 6. Falscher Alarm
  7. 7. Neubeginn
  8. 8. Bully ft. Ajani
  9. 9. Dienst Nach Vorschrift
  10. 10. Joe Black
  11. 11. Sutsche
  12. 12. Tako Tsubo
  13. 13. Warum Halten Wir Nicht Zusammen ft. Ajani
  14. 14. Nachtigall (Acoustic)

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Mellow Mark

"Du spielst einen Song von Thomas, und das auch noch grooviger als er selbst!" - Smudos Lob in der Castingshow The Voice Of Germany fällt recht euphorisch …

1 Kommentar mit 2 Antworten

  • Vor einer Stunde

    Hatte mal eine sehr kurze, hoch peinliche Reggae-Phase. Da war die Deutsche-machen-Dancehall-Zeit gerade am Abklingen. Mellow Mark kam mir damals auch unter, und irgendeine seiner Platten fand ich ziemlich gut.

    Ich bin einfach nur dankbar, bis auf ein Festival nie Zeit mit diesen extrem intoleranten, weissen, passiv-aggressiven Niceness-Futzis verbracht zu haben, und dass diese Phase so kurz geblieben ist. Habe jetzt wirklich Angst, auch nur einen Track vom neuen Material anzuwerfen. Das Cringen könnte ein schwarzes Loch erzeugen...