laut.de-Kritik
Mit Spielspaß gegen das Elend der Welt.
Review von Manuel Berger"Are you happy with this scene?", fragen Millencolin im Titeltrack ihres neunten Albums "SOS". Beide Antwortmöglichkeiten scheinen zu gelten: 'Ja' in musikalischer Hinsicht, weil die Schweden ihre melodischen Punknummern mit mindestens genauso viel Spielfreude wie vor zwanzig Jahren zocken. 'Nein' aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive, was Frontmann Nikola Šarčević in seinen Texten auch rausbellt. Kein Wunder, dass der Millencolin-Vogel auf dem Artwork so zerzaust in der Luft hängt. Aber die Hauptsache ist: Er kann noch fliegen!
Wie schon beim Vorgänger "True Brew" besinnen sich die Skatepunk-Ikonen auf alte Stärken. Schnörkellose Akkordarbeit, galoppierendes Schlagzeug, simple Leads und die eingängigen, aber immer gewissen lausbübischen Straßenflair ausstrahlenden Hooklines Šarčevićs prägen das Bild. Zu "Nothing", "Dramatic Planet" oder "Trumpets & Poutine" möchte man am liebsten Tony Hawk in Millenniumsgrafik durch die PC-Halfpipe jagen.
In gut verdaulichen Prisen sprenkeln Millencolin zu all dem wunderbar Vertrauten auch ein paar überraschende Elemente. Okay, Überraschungen der Sorte "What the fuck?" gibts keine. Für wenigstens ein paar gehobene Augenbrauen sorgen der Kinderchor im Opener "SOS", die beinahe hymnischen Lala-Chants in "For Yesterday" und vor allem der Vocoder-Refrain in "Yanny & Laurel".
Letzterer wirkt im ansonsten puristischen Punk-Setup nur beim ersten Hören fehl am Platz. Bald entpuppt sich die dem Produzenten Jens Bogren (Opeth, oh, là, là!) zu verdankende Spielerei als Geniestreich, der dem unvermeidlichen Ohrwurm das gewisse Etwas verleiht und die musikalische Unbeschwertheit der Band betont.
Wer mehr von der Platte haben möchte als nur spaßigen Zeitvertreib, guckt sich die Texte genauer an. Millencolin sind zwar deutlich in ihren Aussagen. Sie wählen ihre Worte aber so, dass man sie nur versteht, wenn man wirklich will, statt politische Meinungen mit dem Vorschlaghammer ins Gesicht zu trümmern.
Man braucht kein Interpretationsmeister zu sein, um zu erkennen, worauf Šarčević mit"You're not just an Instrument / To a conductor who has lost every sense of melody" anspielt. Doch wer keine Lust auf Message hat, der stellt sich in "Trumpets & Poutine" eben trotzdem ganz wörtlich ein Orchester mit Pommesfingern vor.
Millencolin sind für alle da. Nicht einmal knüppelschwingende Troglodyten schließen sie aus, wenn sie in "Caveman's Land" ein ebenso simples wie humorvolles und auf den Punkt gebrachtes Höhlenmenschengleichnis für Xenophobie aufstellen. Im Idealfall überdenken die Besungenen beim Hören ihre Gesinnung, eingeladen von offenen Formulierungen: "After years and years of sinking can you switch your way of thinking?"
Wie man "SOS" qualitativ einordnet, hängt vor allem von der eigenen Schwäche für Melodycore und Nostalgiegefühlen ab. Außerhalb der Ränder der Szene werden Millencolin damit kaum jemanden bekehren. Aber ihnen gelingt ein hervorragendes, kurzweiliges Genrewerk. Die seit einigen Jahren stetig ausgebaute thematische Tiefe steht den Schweden gut. "Carry on this wasteful mission / Carry on keep having fun!"
4 Kommentare mit einer Antwort
Nach dem ersten Hördurchgang gefällt mir das Album sehr gut.
Zwar kommt es nicht an "Home from Home" ran (welches, aufgrund des Rockanteils, noch immer mein all-time favourite von Millencolin ist), aber ist mindestens genau so gut wie "True Brew" (welches in meinen Augen eine recht hohe Haltbarkeit hatte) und auch "Pennybridge Pioneers". "Kingwood" war eher mittelmässig und "Machine 15" zwar nicht schlecht, aber im Millencolin Kontext eher ungewönlich.
Pro-Tipp: die letzte Lagwagon ("Hang") ist überragend (Wenn auch nicht ganz aktuell)
Die Skate Punk Zeiten sind bei denen dann wohl vorbei?
Habe mich so ca. ab 2005 mit nichts mehr in der Richtung beschäftigt (Ausnahme BR) und Millencolin waren schon damals nicht so geil.
Den Lagwagon Tipp behalte ich mal im Hinterkopf, "Hoss" ist immer noch Pop Punk für die Ewigkeit.
Starkes Teil! Für mich ist "Pennybridge Pioneers" das Meisterwerk der Truppe. Allerdings ist "SOS" verdammt nah dran in meinen Augen. Ich muss sagen, dass ich den Jungs nach den letzten guten Alben eine weitere Steigerung nicht zugetraut habe. Ich mag das Teil
"Wie schon beim Vorgänger True Brew besinnen sich die Skatepunk-Ikonen auf alte Stärken."
Eben nicht. Schon bei True Brew haben Millencolin ach so oft behauptet zurück zu den Wurzeln zu gehen und es klang am Ende wie ein schlechterer Abklatsch von Pennybridge Pioneers und nicht nach ihrem eigentlichen Meisterwerk Life On A Plate (na gut, Sense & Sensibility war aber ein Killer-Song). SOS find ich zwar besser als True Brew (und der ganzen Müll von Home from Home bis Machine 15), aber wie man sich auf die eigenen musikalischen Wurzeln besinnt ohne dabei weder altbacken noch repetiv zu klingen haben die Kollegen und Landsmänner von No Fun At All und Satanic Surfers letztes Jahr um Längen besser bewiesen.
Absoluter Karriere-Spätherbst-Killer. Von mir gibt's, wie für den Vorgänger TB, 5 dicke Eier.