Sell-Out, weichgespült oder einfach nur Liebe der härteren Art? Die aktuell größte Band im Hardcore-Punk.

Düsseldorf (rnk) - Die aktuell größte Band im Hardcore-Punk. Genau mit diesem Satz beschwört man eine Comment-Party unter einer Turnstile-Konzertreview herauf: Sell-Out, Lifestyle-Punks, weichgespült sind die meist noch netteren Wortmeldungen. Die Band aus Baltimore juckt es so oder so vermutlich wenig und freut sich über eine immer größer werdende Fanbase. Die ist mittlerweile dermaßen angewachsen, dass größere Hallen wie das Kölner Palladium nicht mehr ausreichen.

Die Erwartungshaltung: riesig

Wer beim Gig vor drei Jahren dabei war, erinnert sich an eine unfassbar euphorische Stimmung, die wohl auch dem Umstand geschuldet war, dass man nach den Lockdown-Zeiten endlich wieder mit anderen Fans Musik live teilen durfte. Die Erwartungshaltung ist trotzdem riesig und schaut man auf die Liveclips der letzten Jahre, inklusive merkwürdiger Anekdoten wie das Defäkieren im Moshpit, scheint der Hype nicht abflauen.

Ausverkauft, das sieht man gestern Abend schon beim Betreten der Mitsubishi Electric Halle, ist das Konzert in Düsseldorf gleichwohl nicht. Vielleicht liegt es am ungünstigen Wochentag, trotzdem auf den ersten Blick etwas enttäuschend. Wahrscheinlich hat sich der Ruf als eine der besten Live-Bands noch nicht bis in die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt herumgesprochen. Über den Ticket-Preis (60 Euro) lässt sich auch kaum maulen, gibt es dafür doch einen weltweit gefeierten Headliner plus zwei Vorbands.

Eine Band kurz vor dem Durchbruch: High Vis

Und wir reden hier auch nicht über drittklassige Minor Threat-Verschnitte, sondern um Bands wie die High Vis, die selber kurz vor dem großen Durchbruch stehen. Die Londoner öffnen wie Turnstile die Genregrenzen und lassen auch Einflüsse aus Post-Punk, Rave und UK-Garage zu. Ihre Musik soll hoffnungsvoll und nicht nur durchgängig frustriert klingen, beschreibt Sänger Graham Sayle die Attitüde seiner Band. Im Hooligan-Look mit Stone Island-Jacke sieht er auf der Bühne dagegen aus, als ob heute ein Hochrisiko-Spiel zwischen Westham United und Millwall ansteht.

Die Halle feiert den Groove-orientierten Mix, bei dem Punk dominiert und es auch nicht zu experimentell zugeht. "Danke, dass ihr uns so unterstützt und keiner von uns einen beschissenen Dayjob nachgehen muss!", ruft Sayle in die ordentlich gefüllten ersten Reihen. Ich muss beschämt zugeben, dass ihr formidables Album "Guided Tour" vergangenes Jahr an mir vorbei gegangen ist, und ich mich nun als neuen Fan bezeichne.

Der Daumen senkt sich: The Garden

Live darf man High Vis absolut nicht verpassen. Das lässt sich über den zweiten Act nicht unbedingt sagen. The Garden sind gewöhnungsbedürftig. Das fängt schon beim Look an, der nach 90er-Jahre-Cosplay zum Film "The Crow" aussieht und geht beim Mix aus Hyperpop, Goth und Reggae weiter. Ein Besucher neben mir senkt bereits ab dem zweiten Song inbrünstig den Daumen. Turnstile beweisen hier Mut, diese Band nicht vor, sondern nach High Vis auf die Bühne zu schicken.

The Garden unterhalten trotzdem auf ihre skurrile Art und wirken so, als hätte Kollege Yannik Gölz seine eigene Band gegründet und würde den genialen Freestyle seiner Reviews nun in musikalische Form gießen. Ich hoffe, er liest das hier als Kompliment. Punk im Sinne von Konventionen nicht bedienen und Leute vor den Kopf stoßen, sind The Garden auf jeden Fall.

Es genügen ein paar Takte "T.L.C."

Die Stimmung in der Halle zeigt sich bereits im Bereich von interessiert bis gut, als um 21:15 Uhr die Lichter ausgehen und im blau-dunklen Schatten die Silhouetten der Turnstile-Mitglieder:innen erscheinen: Das Euphorie-Level schwillt schon bei den noch ruhigen Klängen der Chillwave-Nummer "Never Enough" ordentlich an. In dem nun vollen Innenraum singen die Fans jede Zeile des atmosphärisch wunderschönen Songs voller Begeisterung mit. Wer Turnstile nicht kennt, würde sich bei diesem Einstieg noch in Sicherheit wiegen. Doch es genügen ein paar Takte "T.L.C." und schon sieht man Körper durch die Luft fliegen oder gegeneinander springen.

Es bleibt aber alles im Rahmen, überhaupt fällt der Stiernacken-Dude-Anteil eher gering aus. Feel-Good-Mosh, so darf man das problemlos benennen. Und warum auch nicht? Soll man als Trophäe die Schneidezähne des Typen vor einem mit nach Hause nehmen? Nö, die ganze Zeit in Bewegung bleiben, fordert den Körper schon genug heraus, da brauche ich nicht, wie bei Hatebreed geschehen, noch einen Ellbogen direkt in die Fresse dazu.

"Keep It Moving" heißt ein Turnstile-Song, und ist auch die Devise für ein Set mit vielen Songs vom aktuellen Album und dem Durchbruchsalbum "Glow On". Mit "Drop" und "Real Thing" finden sich auch noch frühe Stücke. Nach meinem Empfinden geht es aber nicht so heftig zu wie noch beim besagten Köln-Konzert, aber da wollte nun wirklich jeder die nach Corona aufgestaute Energie rauslassen.

Liebe der härteren Art

Bei "Seeing Stars" fährt dann die Disco-Kugel runter und taucht alles in schönes Sternenlicht. Ja, ich kenne selbst ein paar true Reelkepper, die gerade an dieser Stelle abkotzen und ich mir eine Eloge über Biohazard 1993 anhören darf. Ja mei, lass sie doch! Es soll schließlich ein Abend sein, bei dem man abgeht und Spaß dabei hat. Politischer Dünnpfiff bleibt ebenfalls außen vor.

Die Klassiker wie "Blackout" sorgen eh für weitere Circle Pits, beim Finale "Birds" dürfen auch wieder Leute aus der vordersten Reihe mit auf die Bühne, um mit allen Crew-Mitgliedern sowie den Support-Bands fröhlich herumzuspringen. Danach schaue ich in verschwitzte Gesichter und verlasse im Nebel aus Rest-Flatulenz und sehr viel Körperschweiß-Geruch den Ort des Geschehens. In den Moshpit gekackt hat zum Glück auch niemand. Es bleibt auch in der größeren Halle dabei: Turnstile sind einfach Liebe der härteren Art, und alles ist gut. Turnstile Love Connection eben.

Von Rinko Heidrich.

Fotos

Turnstile

Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Turnstile,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm)

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laut.de-Porträt Turnstile

Turnstile klingen alt, aber auch neu. Sie sind 80er und 90er, Hardcore und Punk, Skatemusik, Pop und moderner Sound in einem. Magazine wie NME sprechen …

15 Kommentare mit 32 Antworten

  • Vor 19 Tagen

    Für 60€ sehe ich an 5 Abenden 15 richtige Hardcore-Punk-Bands und nicht diese PopCore-Boygroups.

  • Vor 19 Tagen

    Ich finde Turnstile eine sehr gute Musikkapelle.
    Die Mitglieder der Kapelle sind sehr gute Musiker, ich mag sie lieber hören als Musiknazis wie zB Horst Wessel, den finde ich zu anstrengend.
    Ich möchte gerne auf dieser Seite mehr spannende Neuigkeiten über Turnstile lesen.

  • Vor 19 Tagen

    Juhu! Endlich sind sie da, in Farbe und bunt!
    Turnstile die neuen Koryphäen des Hardcore
    genauso wie damals
    Creed die neuen Koryphäen des Grunge
    Nickelback die neuen Koryphäen des Hard Rock
    Green Day die neuen Koryphäen des Punk Rock
    Bushido der Koryphator des deutsch Rap
    .
    .
    .

    • Vor 19 Tagen

      Schön in Watte gepackt und nicht zu gefährlich. Verkauft sich sonst schlecht. MTV gefiele das.

    • Vor 17 Tagen

      ja sonnenschein, dann hau mal raus: welche "gefährlicheren" hardcore bands hörst du so? Empire Falls? Extreme Hatred? Antiseen? GG Allin?

    • Vor 16 Tagen

      Review gelesen? Herr Besucher hat bei den Posern von Hatebreed einen Ellebogen abbekommen und war entsetzt. Er hätte halt gern eine Oase der Höflichkeit, bei einer Musikart, die nie auf Streicheln aus war.
      Und damit legitimiere ich nicht die low-IQ-Stressvögel, die sich oft genug bei solchen Konzerten herumtreiben.

      Und deine Nazischeißbands sind kein Hardcore und werden es niemals sein. Nur primitive Anbiederung an eine Subkultur, weil Faschos nichts eigenes haben und anbieten können, außer Hass, Hierarchien und Unterordnung. Genau das Gegenteil von Hardcore. Durch den Saal treten und die NBs klauen.

  • Vor 16 Tagen

    Die Glow On ist über vier Jahre draußen, wieso triggert das immer noch so sehr? Bin ich jetzt komplett unten durch, wenn ich da Spaß hatte? Oder sind da noch ein paar Stufen drüber? (keine Ahnung, zu Electric Callboy gehen zB)

    Die Vorband für Prag im Juni gefällt den True Hardcore Leuten evtl, die hören auf den Namen SCOOP. Bitteschön: https://scoophardcore.bandcamp.com/album/s…

    • Vor 16 Tagen

      Das ist nur rage-bait vom Autor. Und man tut ihm doch gern den Gefallen, auch weil sonst selten bis garnichts vom HC-P besprochen wird, ja nichtmal gute HC-Bands aus diesen Landen in der Bandliste auftauchen. Und dann kommt da einer und will uns ernsthaft? erzählen, was der neue, geile und heiße HC-Scheiß ist? Ansonsten: revel in, solang keiner darunter leidet. Ich glaub, dafür ist die Band auch gut.

  • Vor 16 Tagen

    "Gibt es Parallelen zwischen sogenannten RealKeepern im Rap und sogenannten GateKeepern im Heavy Metal? Gibt es eine entsprechende Bezeichnung für die Musiksparte Hardcore?"

    Ja — es gibt klare Parallelen, und man kann das Phänomen gut genreübergreifend betrachten.

    1. Was machen „RealKeeper“ im Rap?
    Im Rap (vor allem im US-Hip-Hop und im deutschsprachigen Rap) bezeichnet RealKeeper meist Personen, die darauf bestehen, dass Rap „authentisch“, „real“ und „straßenbezogen“ sein müsse. Sie beurteilen die „Echtheit“ von Künstlern und lehnen oft kommerzielle oder stilistisch abweichende Entwicklungen ab.

    Typische Merkmale:
    Betonung von „Realness“ und „Street Credibility“
    Ablehnung von Pop-Einflüssen
    Nostalgie für „goldene Ära“-Stilrichtungen
    Vorwurf des „Sellouts“

    2. Was machen Gatekeeper im Metal?

    Im Metal bezeichnet Gatekeeping ein ähnliches Verhalten. „Gatekeeper“ legen fest, was „echter“ oder „true“ Metal sei. Besonders verbreitet ist das in Subgenres wie Black Metal, Thrash oder Traditional Heavy Metal.

    Typische Merkmale:
    Abgrenzung gegen „Mainstream Metal“
    Beharren auf ästhetischen und stilistischen Regeln
    Misstrauen gegenüber neuen Subgenres (Nu Metal, Metalcore, Djent etc.)
    Verwendung von Begriffen wie „Trve“ oder „Kvlt“

    **3. Parallelen zwischen RealKeepern (Rap) und Gatekeepern (Metal)

    ...
    Beide Gruppen schützen symbolisch eine Identität oder Kultur, die sie bedroht sehen.

    4. Gibt es eine entsprechende Bezeichnung im Hardcore?

    Ja, aber sie wird weniger formell verwendet.

    Im Hardcore (Punk/HC/Metalcore) gibt es ähnliche Haltungen, aber die Begriffe sind eher umgangssprachlich:

    a) „Scene Police“

    Der verbreitetste Ausdruck. Gemeint sind Leute, die anderen vorschreiben wollen:
    wie man sich kleiden darf,
    wie „echter Hardcore“ klingt,
    wie man sich im Pit zu verhalten hat,
    welche politischen Einstellungen akzeptiert werden.

    b) „Hardcore Elitists“ / „HC-Elite“

    Oft ironisch oder kritisch verwendet. Beschreibt Personen, die die Szene normativ bewerten und stark abgrenzen.

    c) „Oldschool-Purists“

    Personen, die nur 80er/90er Hardcore als „echten“ Hardcore ansehen.

    d) Seltener: „Gatekeeper“

    Der Begriff Gatekeeper wird inzwischen dank Internet-Slang auch im Hardcore benutzt, aber er ist nicht so historisch verankert wie im Metal.

    5. Fazit

    RealKeeper (Rap) und Gatekeeper (Metal) erfüllen dieselbe kulturelle Funktion: Bewachung der Genre-Authentizität und Ablehnung bestimmter Entwicklungen.

    Im Hardcore gibt es ähnliche Typen, sie heißen aber meist „Scene Police“, „Hardcore Elitists“ oder „Oldschool-Purists“.

    Der Begriff Gatekeeper selbst wird dort ebenfalls genutzt, aber weniger traditionell.
    Wenn du möchtest, kann ich die soziologischen Hintergründe oder Beispiele aus bestimmten Szenen (Deutschrap, US-HC, Black Metal usw.) genauer beleuchten.

    "Nein Danke, mir ist schon schlecht."