laut.de-Kritik
Tel Aviv state of mind: Ein neuer Fixpunkt am Electro-Pop-Himmel.
Review von Michael SchuhZum Zeitpunkt ihrer Debütveröffentlichung "Off The Radar" flog Noga Erez sträflich unter selbigem. Zukunftsweisender, unkonventionell arrangierter Elektro-Pop, so die landläufige Annahme, müsse schon aus London oder wenigstens New York kommen, jedenfalls kaum aus Tel Aviv. Und dann die Lyrics. Sie habe zahlreiche gutgemeinte Ratschläge erhalten, besser nicht über das Leben in Israel zu schreiben, erzählte Erez. Hörte man dann ihre Songs über interessengelenkte Medien und staatliche Überwachungstendenzen lässt sich sagen, dass sie sich alle Ratschläge in Ruhe angehört und anschließend ignoriert hat.
Vier Jahre später lebt sie immer noch in Tel Aviv und hat sich im dortigen Homestudio mit Lebens- und Kreativpartner Rousso pandemiegerecht eingebunkert. Covid-19 änderte nicht nur den Veröffentlichungsplan von "Kids", sondern führte laut Erez auch dazu, dass sie noch mehr Zeit für die Ausgestaltung der neuen Songs aufbrachte, für die sie auffallend häufig Versalien verwendet. Beinahe als fürchte sie, noch einmal unter dem Radar zu fliegen.
Diese Angst ist unbegründet. An ihrer neuen Platte wird man 2021 kaum vorbeikommen. "Kids" ist ein spektakulär arrangiertes Pop-Album aus einem Guss, randvoll mit feel good hits of the summer. Dabei orientieren sich Erez und Rousso weniger an der hedonistischen Floor-Ästhetik einer Dua Lipa als an den Pattern-Strukturen des Hip Hop. Ebenso sind Nogas Vortrag und Timing sehr deutlich am Rap geschult, während die von Rousso dick produzierten Synthieteppiche und vielfältigen Beatmuster den Reiz der Musik ausmachen.
"Ach diese Kinder heutzutage", lässt sie ihre Mutter zu Beginn stoßseufzen, denn Nogas Blick richtet sich 2021 ins private Umfeld, weg von den letztlich fremdgesteuerten Missständen der Gesellschaft. Ausschlaggebend war der Tod von Roussos Mutter. Entsprechend sachte gleitet Noga in "Cipi" über einen smoothen, jazzartigen Track und verkündet: "I've been deep deep deep / deeply depressed."
In "Views" dreht sie dann richtig auf und legt ihr von Beiläufigkeit geprägtes On-Point-Storytelling offen. In dem funky Dance-Track, musikalisch zwischen den Gorillaz der "Plastic Beach"-Ära und dem Drive der Puppetmastaz, macht sie sich über gefälschte Klicks lustig, während Rousso herrlich gebetsmühlenartig eine Art zweiten Refrain übernimmt und trocken kommentiert: "People buy views, I know it's old news / but I got bad news for everybody / holy water is no juice / but I know us Jews / we don't like to lose to anybody".
In eine ähnliche Kerbe schlägt das ebenso bereits veröffentlichte "No News On TV" mit federnden Beats und 8-Bit-Retrosounds, über denen Noga ihr Charisma souverän ausspielt. In ihren gedehnten Passagen erinnert sie manchmal an M.I.A. ("Bark Loud"), ansonsten liefert Noga eine erfrischend eigenständige Vorstellung ab. Die hohe Musikalität der Tracks stellten bereits ihre akustischen "Kids Against The Machine"-Lockdown-Videos zur Schau. "Kids" wird den hohen Erwartungen angesichts der vorab bekannten Songs gerecht: Das somnambule "Candyman" oder die Kollabo mit dem weiblichen Rap-Duo Blimes warten ebenso mit 80s-Einschlag, dicken Basslines und infektiösen Melodien auf.
Im abschließenden "Switch Me Off" fährt Rousso seine Beats dann runter, Noga säuselt zu melancholischer Lounge-Atmosphäre, die letzte Kippe brennt schon, das Licht geht gleich an, die Vorstellung ist zu Ende. Kaum zu glauben, dass das dieselbe Powerfrau der vergangenen elf Tracks darstellt, die sich zu anschwellenden Streichern am Ende eine rasche Eliminierung wünscht. Diesen Gefallen werden wir ihr nicht tun.
5 Kommentare mit 5 Antworten
Super Platte, gefällt mir sehr gut. Bin ich nicht immer in der Stimmung für, da manchmal doch sehr ab- und aufgedreht, aber solch eine Bemerkung kann auch nur aus einer Zeit stammen, in der vielerlei Musik so Algorithmus-optimiert ist, dass sie bei Spotify & Co. in den Feel Good-Hintergrundmucke-Playlists landet.
Die Platte scheint ok zu sein, aber das live Video zu End Of The Road ist königlich. Kann man machen.
Ja, ist okay. Ist mir etwas zu sehr wie die Spätphase der Britney Spears, auf der aus unerfindlichen Gründen gerade so gnadenlos herumgeritten wird. Der Early-20s-Partydivenkitsch hält sich aber zumindest halbwegs in Grenzen.
Britney? Klingt schon nach deutlich mehr Substanz und Eigenständigkeit hier, oder?
Und rappt mal eben im Vorgehen besser als alles, was hierzulande im Mainstream das Etikett Rap trägt
Hält sich schon, wie gesagt, Grenzen. Hat aber schon was vom Sound parfümgetränkter "rotzfrecher" (würg) Discobitches, der in den frühen 2000ern so populär war und gerade so gnadenlos wiederbelebt wird. Wenn man denn von "Leben" sprechen kann.
Daß sie nur teilweise so klingt, nicht so wirkt, und darüber hinaus auch rappen kann, hilft mir aber sehr weiter.
Sehe ich ähnlich. Dafür dass sie aussieht als wäre sie Dritte beim diesjährigen Sarah Kuttner Lookalike Contest geworden, kann sie ja nix. Darf also nicht negativ mit einfließen
"rappen" schreckt mich ab.
Bisschen Billie Eilish-isch aber ganz okay.
Cooles Album. War mir bis dato kein Begriff. Ein Album wie aus einem Guss. 4/5