laut.de-Kritik
Ein maßloses Meisterwerk.
Review von Franz MauererSeit "Process" (2017) klang niemand so wie Sampha. Das ist durchaus bemerkenswert, wurde die dunkle Schmerzenstour doch völlig zu Recht hochgelobt und beeinflusste den modernen R'n'B. The Weeknd hörte zwar zu, bog aber doch anders ab, und Frauen wie FKA Twigs machen eh ihr eigenes, sehr heterogenes Ding. Nun - nach Jahren eklektischer Kooperation nur mit den Größten der Branche - liegt endlich "Lahai" vor.
"Stereo Colour Cloud (Shaman's Dream)" beginnt kitschigerweise tatsächlich so, als wäre Sampha Sisays sanfte Stimme nie weggewesen. Jedenfalls erinnert man sich schlagartig, wie sehr man sie vermisst hat, wie diese einzigartige Mischung aus überbordender Kraft und verletzlicher Intimität den Hörer in ihren Bann zieht. Doch zeigt schon der feine, verspielte Opener, dass der Sound sehr wohl eine Entwicklung durchgemacht hat.
War "Process" eine eher skelettierte, düstere Angelegenheit, ist auf dem Opener zwar nie so richtig viel parallel los, aber insgesamt eben doch sehr viel, und das mit großer Wärme und Verspieltheit. Trotzdem verliert der Song nie die Leichtigkeit einer Fingerübung und wirkt zu keiner Zeit verkopft. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sampha trotzdem nie den Bass vergisst: Er setzt ihn vielmehr zielgenau ein.
"Spirit 2.0" hat mehr Singlecharakter - und vor allem einen deutlich erkennbaren Beat sowie Refrain. Der Bass bleibt dosiert, das Ergebnis fällt treibend und meditativ zugleich aus. Wie auf "Dancing Circles" kreist das nach Samphas Großvater benannte Album um des Sängers Gefühlszustand, reflektiert die eigene Vaterschaft und letztlich seine 'Mental health journey', wie die nicht mehr so jungen Leute auf TikTok sagen würden.
Dabei gibt sich Sampha stets larmoyant und wenn nicht sprachgewandt, so doch wie auf "Process" in der Lage, komplexe Gefühle authentisch in einfacher und treffsicherer Sprache auszudrücken. Der Song basiert auf einer repetitiven Keyboard-Figur, die aber immer dann, wenn man sich an sie gewöhnt hat, abdreht oder ergänzt wird.
Bislang zählen wir drei herausragende Songs des modernen R'n'B, vielschichtig, sprühend und trotzdem zielgerichtet. "Suspended" setzt dem Reigen die Krone auf - ein absoluter Übersong, zu dem man grübeln, tanzen oder weinen kann - oder alles auf einmal. Vom Refrain bis hinein in die letzte Ecke stimmt hier einfach alles, jede Note zerfließt und fügt sich in einen ständig nach vorne drängenden Fluss ein.
"Satellite Business" lässt 15 Sekunden Luft, dann zeigt Sampha en passant, wie rappen geht, wobei er offensichtlich manches von seinem Kumpel Kendrick gelernt hat. Hier sind wir wieder bei dieser Art von Fingerübung, die der Brite mit größter Ernsthaftigkeit durchzieht und einen Sound höchster Qualität abliefert, der in der Herangehensweise an Jai Paul ähnelt.
"Lahai" erinnert in seinem fließenden Sound an ein Ölgemälde, das Sampha stellenweise schlicht wirken lässt, das er gleichwohl über Jahre geplant und ausgeformt hat. Dieses Album schafft es, hart erarbeitete Kunst wie spielerischen Beifang aussehen zu lassen.
"Johnathan L. Seagull" bringt eine neue Facette ein: Gospel. Soul atmet Samphas durchgehend glänzend aufgelegte, stets songdienliche Stimme sowieso, aber hier kommt ein schwerer, bedeutungsschwangerer Rhythmus dazu, der den bislang entweder kühleren oder leichteren Songs abgeht. Der Song besitzt eine Gravitas, die irgendwann von Sounds à la James Holden aufgelöst wird.
Die Beziehungsfriedenspfeife "Inclination Compass (Tenderness)" bleibt sanft und vorsichtig, so, wie man mit einer verstimmten Partnerin eben am besten reden sollte. Die Öffnung hin zum Ende des Songs gehört zu den Highlights dieses an Highlights so gar nicht armen Albums. Es ist wichtig zu betonen, dass jeder Song nicht einfach nur auf einer klasse Idee beruht, jeden zeichnet ein anderer, dominanter Charakter aus. Man könnte ein Buch über jeden Track verfassen. Sich hier zu verirren, ist schlichtweg unmöglich, man weiß jederzeit, welchen der Tracks man hört.
"Only" streift dann alles bisher Gehörte mit einer konsequenten Bassline ab und präsentiert sich als astreiner Popsong, für den Drake heutzutage diverse OVO-Produzenten fröhlich erwürgen würde. "Time Piece" bereitet als Skit "Can't Go Back" den Boden, das ab Sekunde eins so großartig wie verwunschen klingt. Der Song hört sich stellenweise wie ein Spatzenkonzert, eine Art Gospel oder eine Drumvorführung an - alles, nur nicht erwartbar oder gekünstelt.
Den Gospelfaden nimmt "Evidence" wieder auf, das sich geradezu unverschämt leichtfüßig nach oben schwingt und im unregelmäßig aufflimmernden Refrain die schönste und gelungenste Textstelle des Albums reklamiert: "Without the evidence / Your evidence / You're enough evidence for me" ist ein gutes Beispiel für die einfache, aber emotional wirksame Sprache des Londoners. Léa Sen ist auf "What If You Hypnotise Me?" der einzige Gast mit Featurestatus. Eine rasante Pianofigur trägt den Song bis zu einem wunderbaren, nicht genau identifizierbaren Zupfinstrument. Wie so oft schlägt alles atemlos fünf Räder, ohne den roten Faden zu verlieren.
"Rose Tint" verabschiedet die Hörerschaft fast schon gegen die Erwartungen zunächst ruhig, nimmt zur Mitte hin mit Elektrospielerei und viel Wiederholung aber Fahrt auf. Hier hätte beispielsweise noch ein Housebeat gut gepasst. Das ist vielleicht der einzige Wermutstropfen bei "Lahai": Man könnte sich an vielen Stellen einfach noch mehr vorstellen, auch wenn man genau weiß, dass es gerade Samphas eiserne Disziplin und seine Bereitschaft ist, eine Idee sofort wieder zu verwerfen, wenn ihm eine bessere einfällt, die "Lahai" zu so einem besonderen Werk macht.
Eine beeindruckende Menge an unterschiedlichsten Künstlern beteiligte sich an "Lahai", was aber nie auffällt. Das Werk wirkt so intim, es könnte auch mit enormer Frickelarbeit allein an Samphas Laptop entstanden sein. Der Einzige, der mit Fug und Recht behaupten kann, "Lahai" mitgeprägt zu haben, ist El Guincho, bekannt durch seine Arbeit mit Rosaliá. Er schrieb mehrere Songs mit und co-produzierte einige.
Stimmen hört man auf "Lahai" neben Sampha nur weibliche, was eine Parallele zur westafrikanischen Folktradition aufzeigt, die sich im Sound jedoch nicht wiederfindet. "Lahai" ist im besten Sinne strikt modern, setzt die Benchmark für den R'n'B der Gegenwart und wirkt gleichzeitig zeitlos. Ohne Samphas Stimme würde einem auch "Process" nicht als Anknüpfungspunkt einfallen. "Lahai" steht für sich alleine. Ein maßloses Meisterwerk.
7 Kommentare mit einer Antwort
Das letzte Album lief bei mir immer wieder, obwohl es nicht gerade Leichtigkeit versprühte. Wenn ich mir die CD kaufe, zusätzlich zum streaming, bin ich in der Regel schwer begeistert. Auf dieses bin ich sehr gespannt und lass es mal rotieren. 5/5 von Herrn Mauerer lässt ja einiges erwarten.
Ich lieb es auch. Ehrlich ein Frontrunner für das Album des Jahres: https://youtu.be/kYMxdj6YVCY?si=vZB2Qt0-q9…
5 Sterne und nicht Hip Hop/Rap. Mal reingehört. Nach 5 Minuten zum Handy gegriffen und das Internet durchgescrollt. Ähm, lief da jetzt Musik. Naja, hat nicht weiter gestört.
Man muss sich schon konzentrieren können und etwas Geduld haben. Lohnt sich aber immer bei Sampha. Nebenher TikTok is nich, Aufmerksamkeitsspanne und so.
High Hopes, let´s listen.
Gute Stimme, aber die höre ich weiterhin lieber im Feature-Kontext für genrefremde Leute.
Wächst mit jedem Anhören und gefällt mir noch besser als das bereits sehr gute Debut!