laut.de-Kritik
Aus großer Unsicherheit entsteht große Kunst.
Review von Holger GrevenbrockNach langem Warten legt uns Sampha ein Album vor, das die in ihn gesetzten Erwartungen voll erfüllt, wenn nicht gar übertrifft. Profitierte in der Vergangenheit noch das Who Is Who amerikanischer Pop-Musik von den Songwriting-Qualitäten des Briten, nimmt dieser nun selbst Anlauf zum Sprung auf die großen Bühnen der Welt. Dabei sind es vor allem persönliche Erfahrungen, die "Process" zu einem ungemein intensiven Hörerlebnis machen. Aus der omnipräsenten Unsicherheit des Sampha Sisays entsteht große Kunst, die zum mehrmaligen Hören auffordert.
Seit seinem Debüt "Substanza" (2010) mussten seine Fans viel Geduld aufbringen. In den folgenden sieben Jahren stellte dieser nämlich seine Ambitionen als Solokünstler zugunsten prominenter Feature-Parts hintenan und profilierte sich als Produzent von gefragten Acts wie SBTRKT oder Jessie Ware. Es spricht wohl für den Briten, dass er trotz der Starpower an seiner Seite in Gestalt von Drake, Frank Ocean, Kanye West oder auch Solange auftrumpft und sich nachhaltig ins popkulturelle Gedächtnis einprägt.
Doch nicht nur die hohe Nachfrage verschiebt den Release-Tag immerfort. Im Jahr 2015 stirbt seine Mutter Binty nach langandauernder Krankheit an Krebs. Die Trauer über den Verlust schimmert in den Songs jederzeit durch und bestimmt den Entstehungsprozess des Albums maßgeblich. Der erfahrene Orientierungsverlust und die tief empfundene Einsamkeit spinnen den roten Faden, wodurch "Process" den Charakter eines Konzept-Albums erhält.
Im Mittelpunkt steht der Selbstfindungsprozess und der stetige Kampf mit sich selbst und den verdrängten Ängsten, die ihn nun einholen. So setzen im aufwühlenden "Blood On Me" die inneren Dämonen zur unerbittlichen Jagd an und lassen dem Protagonisten keine Zeit zum Luftholen: "I wake up and the sky's blood red / I'm still heavy breathin' / Felt so much more than dreamin' / I get up, they're at the edge of my bed / Yeah, how did they find me, find me?" Die eigenen Versagensängste, der Welt draußen nicht gewachsen zu sein, finden mal unvermittelt ihren Ausdruck wie in "Timmy's Prayer" oder werden in abstrakte Bilder eingefasst ("Plastic 100°C"). Ein Heimat existiert nicht länger und vergeblich schaut er sich nach der helfenden Hand der Mutter um: "Well I'm looking on my left side, I'm looking on my right / She's nowhere to be seen now when I close my eyes at night."
Sicherheit und Trost zieht er aus der Kindheitserinnerung an sein Elternhaus in London, wo er mit drei Jahren das Klavierspielen beginnt, das ihm bis heute über schwere Zeiten hinweghilft. Die simple Ballade "(No One Knows Me) Like The Piano" lässt den Moment des langsamen Abschieds noch einmal vor dem inneren Auge des Zuhörers Revue passieren: "An angel by her side, all the times I knew we couldn't cope / They said that it's her time, no tears in sight, I kept the feelings close / And you took hold of me and never, never, never let me go."
Dass sich das Ganze nicht im Kitsch verliert, ist neben dem lyrischen Talent Samphas vor allem seiner ausdrucksstarken Stimme zu verdanken, die scheinbar mühelos die vielen angesprochenen Emotionen in sich vereint. Sein warmes, modulationsreiches Falsett und die komplexen Songstrukturen gehen in eine spannungsreiche Symbiose über, wodurch sich Samphas Vortrag mal seltsam entrückt ausnimmt, mal schmerzlich nah heranrückt.
"It's not all about me", beteuert Sampha im Abschlusstrack "What Shouldn't I Be?", und doch gelingt es ihm nicht, den Blick von sich zu wenden: "I should visit my brother / But I haven't been there in months / I've lost connection, signal / To how we were."
12 Kommentare mit 2 Antworten
wat 1 album, bois. stimme einzigartig.
ja. kollege?! mach ma hinne!!
das album sollte reviewed werden. 5/5
unfassbares Album, wer nicht ahnt hat keine ahnung
4/5
Beste Tracks:
No one knows me like the piano
Under
Von allen im Jahre 2017 erschienenen Alben die Platte, die ich am meisten höre. Klar sehr elektronisch-angesagt und etwas arg melancholisch, aber geht mehr in die packende Richtung und gleitet zum Glück nicht in dieses theatralische James Blake Gejammere ab.