laut.de-Kritik
Eine neue unverkennbare Folk-Stimme.
Review von Philipp KauseEin Plattencover wie das von "Trail Of Flowers" lässt sich heute wohl nur der Firma Rounder Records ungestraft vorschlagen. Das Unternehmen in Nashville schreibt sich seit je her handgemachte Musik mit einer ausgeprägt amerikanischen Prägung auf die Fahnen. Während das Repertoire von New Orleans-Soul bis Country-Rock reicht, sind heute mehrere Electric Blueser wie Bobby Rush und Samantha Fish gesignt.
Mit Bear's Den und der 2018 verpflichteten Sierra Ferrell führt das Label eine Folkrock-Sparte. Einer der neuesten Zugänge bei Rounder sind aber The Offspring, was wiederum dazu passt, dass Ferrell mit explosiver Gitarrenmusik der '90er aufwuchs. Über ihr Vorleben ist wenig bekannt, außer dass sie ihre Twen-Jahre hippiemäßig als herum ziehender Freigeist und Lebenskünstlerin verbrachte. Es zog sie zum Beispiel aus dem US-Osten ins Herz des 1980er/90er-Grunge, nach Seattle, ans andere Ende der Staaten.
Nachdem sie mit 26 spät ein Debüt von lediglich nationaler Nischenbedeutung heraus brachte, ergatterte sie mit 30 noch viel später den Vertrag mit Rounder. Dann legte aber der Lockdown ihre Projekte erst mal auf Eis. Das bezeichnend "Long Time Coming" vom Herbst 2021 betitelte Album fiel mir beim Online-Stöbern in die Hände. Meine Vorfreude auf einen Nachfolger war groß, obwohl diese Musikrichtung nicht so direkt mein Zuhause ist: ein Konglomerat aus Bluegrass, sehr ländlich geprägter Roots-Americana, viel Fiddle-Sound, Texten, die in der Vergangenheit spielen, vorsichtig eingefügten modernen Rock-Einflüssen.
Sierras Stimme fesselt sofort. Sie erzeugt eine intime Stimmung. Sie hebt sich von allen Tonlagen ab, die aus Folk oder Rock bekannt sind. Es gibt keine brüchigen, wispernden, metallischen, keifenden, säuselnden oder emanzipatorischen Zwischentöne, sondern einfach eine klare, tendenziell helle Stimme, die jung, schwungvoll und beherzt klingt. Schnell wirkt sie vertraut. Jetzt ist Sierra 35, und ihr Songmaterial ist große Klasse. Mit dem Track "Fox Hunt" schaffte sie es jetzt trotz einer arg traditionellen Ausrichtung mit Dobro, Pedal-Steel und singender Säge sogar in die Late Night-Show von Jimmy Kimmel, der auf YouTube fast 20 Millionen Follower zählt.
Es könnte der entscheidende Schritt zum Durchbruch sein, aber auch wenn nicht, sollte man die Platte als Americana-Fan genauso wie als Fan von gutem Gesang gehört haben. In der malerischen und anmutigen Trennungs-Ballade "Wish You Well" mit Cello rührt Sierra mit ruhiger Herangehensweise und wunderschönen Hook-Harmonien an.
"Rosemary" ist das, was Nick Cave eine "Murder Ballad" taufen würde. Was sich als zartes Unplugged anlässt, entwickelt sich zum Eifersuchts-Rache-Schlachtplan. Zum geplanten Mord kommt es am Ende doch nicht. Die Ich-Erzählerin flirtet mit einem Typen, der sich nicht so wirklich von seiner Ex namens "Rosemary" gelöst hat. Er unternimmt mit der Erzählerin Ausflüge in Berge und Wälder durch Wind und Regen. All ihr Werben um ihn bringt jedoch nichts, weil er zu seiner "Rosemary" zurück möchte, die irgendwo auf einem Hügel als Einsiedlerin haust. Die Ich-Erzählerin schäumt vor Wut und will den beiden den Garaus machen, erfreut sich dann aber an einer Liebe, die einen nicht so schnell im Stich lässt, nämlich der schönen Natur.
"Money Train", "Dollar Bill Bar" und "American Dreaming" borgen etliche Elemente bei Southern Rock und Outlaw-Country aus. "American Dreaming" riskiert auch ein Alternative-Riff. Hin und wieder hört man stilistisch heraus, dass Ferrell sich ihre Kohleminen-Heimat mit Steve Earle teilt.
"I'll Come Off The Mountain" bezirzt als beschwingter Folk. "Why Haven't You Loved Me Yet" brilliert als Musterbeispiel-Perle dessen, was man an der Steel Guitar zaubern kann. "Lighthouse" lehnt sich massiv an Traditional Bluegrass an. Das schnell eingängige "No Letter" lässt sich am ehesten als Roots Music etikettieren. "Chittlin' Cookin' Time In Cheatham County" handelt zwar von irgendwo im dicht bewaldeten Hinterland von Tennessee, pflegt aber stilistisch einiges von Musicals und urbanen Bühnen.
Ferrells Lieder zeichnen sich durch kompakte Form, lebhafte Melodieführung und Arrangements mit Klangfarbenpracht aus. Jedes Instrument lässt sich an fast jeder Stelle kristallklar erkennen, Sierra führt transparente Stücke auf. Gelungenes Storytelling, sehr schöne Scheibe!
1 Kommentar
Platte des Jahres bisher.