laut.de-Kritik
Im Klub der Generation Z laufen Burial, Manson und Aerosmith.
Review von Maximilian SchäfferThe 1975 machen es erfahrenen und geschmackssicheren Rezensenten nicht leicht. Angesichts ihres aufdringlichen Flirts mit Selbstherrlichkeit und Styling, der so betont zeitgenössischen Pose ihrer Inhalte, einer pubertären Anhängerschaft und den beeindruckenden kommerziellen Erfolgen rümpft man als abgeklärter Feuilletonist nur die Nase.
Ein Intro, bestehend aus einem Originalmonolog von Greta Thunberg inklusive ihrer gewohnt apokalyptisch-wiedertäuferischen Rhetorik, lässt gleich deutliche Stirnfalten entstehen. Healy und Thunberg – da haben sich zwei gefunden. Ob der prätentiöse Anfang (wie immer heißt er "The 1975") zumindest ein bisschen selbstironisch gemeint sein könnte? Im Messiasklub der Generation Z ist normalerweise kein Platz für Schäkereien, es geht schließlich um den Weltuntergang, die Zielgruppe ist bekannt.
Doch dann kommt "People": "Well, my generation wanna fuck Barack Obama / Living in a sauna with legal marijuana / Well, girls, food, gear / I don't like going outside, so bring me everything here." The 1975 überraschen mit einer zynischen Analyse der Verhältnisse, hören sich dabei an wie Marilyn Manson 1998, als er auf "Mechanical Animals" der untote David Bowie sein wollte. Das Video zum Song erinnert deutlich an Peter Christophersons minimalistischen Nine Inch Nails-Clip zu "March of The Pigs".
Spitzfindig reflektieren The 1975 Positionen der letzten drei Dekaden: Blinde Wut passt besser ins alte Jahrtausend, das neue verschreibt sich dem Home Office und passiver Aggression. Chapeau, Matt Healy, ein absolut gelungener Einstieg in ein 22 Nummern langes Album, das trotz einiger Längen Spaß macht und für alle Alters- und Intellektsschichten funktioniert. Was kann Popmusik mehr leisten?
"Music For Airports" und "Music For Films", das war Brian Eno. The 1975 kredenzen nun "The End (Music For Cars)", ein orchestrales Instrumental, das sich irgendwo zwischen Aerosmiths "I Don't Want To Miss A Thing" und Disney-Filmmusik bewegt. "Music For Cars" lautete übrigens auch der Titel der dritten EP der Band, war gleichzeitig der Arbeitstitel des vorliegenden Albums, und Eno unterhielt sich unlängst mit Matt Healy in einem Podcast. Begreift man dies als Überleitung zur Reflexion eigener vergangener Zeiten, liegt man ganz richtig. "Frail State Of Mind" klingt endlich, wie man es von Chartstürmern 2020 gewohnt ist. Dubstep-Beat wie von Burial gesampelt, darüber zuckersüße Synthies und ein Gitarrchen, dazu eine sanfte Stimme und seichte Laune. "I'm sorry that I missed your call / I watched it ring / Don't waste their time / I've always got a frail state of mind" ist pubertäres Geheule, aber akustisch gut gemacht.
Nach einem weiteren Instrumental gleicher Couleur folgt "The Birthday Party", zu dem ebenso ein hübsches Musikvideo existiert. Computergrafik formt darin eine virtuelle Dystopie à la "Black Mirror", wo Gesellschaftsopfer sich vom digitalen Stress in einer "Mindshower" erholen. Achtsamkeit, Meditation und Widerstandslosigkeit sorgen in der Hirndusche fürs Seelenheil. Musikalisch plätschern fast fünf Minuten lang Gedanken zum leeren Leben nach der Heroinsucht dahin. "Impress myself with stealth and bad health / And my wealth and progressive causes / Drink your kombucha and buy an Ed Ruscha": ehrliche Worte zum Dasein in der Wohlstandsblase eines Stars, der sich, kalifornischer Ideologie folgend, eigentlich überhaupt nicht mehr von den Umständen irgendeines erfolgreichen Webdesigners unterscheidet.
"Yeah I Know" ist mehr Skit als Song. Wieder Dubstep-Beat, Vocoder, Autotune, Suchtzwang in den Lyrics, eher überflüssig als bemerkenswert. "Then Because She Goes" ist furchtbar nerviger Müll, eine zuckersüße Ballade, seltsam produziert. Fun Fact: Die Band hat das Material an 16 verschiedenen Standorten aufgenommen. "Jesus Christ 2005 God Bless America" gerät ebenfalls äußerst lästig, riecht streng nach dem Wimmerfolk von Conor Oberst, und tatsächlich singt dessen Kollegin Phoebe Bridgers mit Healy im Duett. Es geht um queere Liebe und Glauben, man hat die US-amerikanischen Kids im Hinterkopf, die sich immer noch mit dem Sprüchlein "Pray the gay away" herumschlagen müssen. Aber auch in noch weniger homofreundlichen Gefilden wie den Vereinigten Arabischen Emiraten sind The 1975 berühmt und berüchtigt. Auf der Bühne wurden männliche Fans geküsst und sie protestierten für Schwulenrechte. Rockmusiker treten für das Gute ein, Healy und Thunberg ... das Bild fügt sich wieder zusammen.
"Roadkill", egal, "You And Me Together Song", egal, "I Think There's Something You Should Know"; egal (schon wieder Burial?). Erst bei "Nothing Revealed / Everything Denied" hört der Rezensent wieder etwas genauer hin, fühlt er sich deutlich an Kanye West erinnert. Gospel, Hoffnung und dann doch wieder Glaube und aufdringliche Gegensätze. "I Never Fucked In A Car" ist die erste Gesangszeile nach dem Kirchenchor, aber im Kontrast zum Vorbild ist Healy eben weder schwarz noch ein Genie, deswegen erzeugt er wieder nur Geplätscher. "Tonight (I Wish I Was Your Boy)" setzt die kleine, weiße Kanye-Revue fort, reicht aber nicht einmal im Ansatz an die virtuosen Harmonizer-Orgien des Meisters heran. Es folgt ein jämmerlicher R'n'B-Versuch inklusive der gängigen Akkordfolgen. Erinnert fast ein bisschen an Michael Jackson am Ende seiner Karriere: Langsam nervts gewaltig.
"Shiny Collarbone": schon wieder Burial? Zumindest angestaubte britische Tanzware, die nicht einmal im Kontext des Albums irgendjemand braucht. Die nächsten sieben Songwritingversuche verlieren sich ebenfalls in unnötigem Formalismus und struktureller Austauschbarkeit. Mal gibt es Saxophon-Einsätze, mal einen Discostampf, mal klingts nach 1985, mal nach 2005, aber insgesamt doch immer stark nach einer mäßig kuratierten Ansammlung von zu viel Füllmaterial, das sich in Selbstherrlichkeit, Styling, Sucht und Sentimentalität verliert.
"Notes On A Conditional Form" erweist sich als feiger Albumtitel, weil solche Hinweise auf temporäre Bestandsaufnahmen immer nur entschuldigen, dass man als Künstler entweder nicht fertig geworden ist oder sich in etwas verloren hat. Dass dieses Album mehrmals verschoben wurde, nun fast ein ganzes Jahr zu spät auf den Markt kommt, unterstützt diesen Vorwurf.
Wann findet das nächste Live Aid statt? Heldentum und Märtyrerschaft, Selbsthass und Weltverantwortlichkeit kennt man bereits aus den Generationen zuvor. Daraus entstand meist Musik mit viel Schall und Rauch, aber wenig Substanz. Wenn es so weiter geht, werden The 1975 die nächsten U2, Matt Healy der nächste Bono. Gehasst, verdammt, vergöttert: So gut wie "Zooropa" oder "Pop" ist "Notes On A Conditional Form" aber auf keinen Fall.
5 Kommentare mit 6 Antworten
Danke. Endlich mal einen erfahreneren Rezensenten dran gesetzt, der die letzten Jahre vorher mal sowas wie Musik gehört hat, und den ganzen Quark einordnen kann, anstatt unreflektiert nen Fünfer zu ziehen wie beim letzten Mal...
Dieser Kommentar wurde vor 4 Jahren durch den Autor entfernt.
Hab’s jetzt ein zweites Mal durchgehört und finde das Album grossartig. Wunderschöne Songs, tolle Instrumentals und eine unglaublich gute Produktion. Das Album wächst definitiv nach jedem Durchgang. Nicht so “Hit” lastig wie das letzte Album, aber als Gesamtwerk dennoch gelungener. Eine unterschätze Band, die man entweder liebt oder hasst.
Schließe mich dir an. Finde das Album auch wirklich gut, glaube es braucht einige Zeit um zu reifen und als die Platte erkannt zu werden die sie ist. Geschmack ist natürlich subjektiv. Finde die Pitchfork Review trifft den Nagel deutlich besser auf den Kopf.
Das letzte Album ist schwer zu übertreffen, aber 3/5 sind natürlich bitter. Ich fand die Vorabsingles stark (v. a. Me and You Together Song), später mal reinhören.
"Roadkill", egal, "You And Me Together Song", egal, "I Think There's Something You Should Know"; egal (schon wieder Burial?)."
"Die nächsten sieben Songwritingversuche verlieren sich ebenfalls in unnötigem Formalismus und struktureller Austauschbarkeit."
Es scheint, als hätte der Autor keine Lust gehabt sich ernsthaft mit dem Album auseinanderzusetzen.
Wie bereits oben beschrieben, braucht das Album Zeit und Geduld.
Beides hat der Autor anscheinend leider nicht mitgebracht.
Lieber Chris,
vielen Dank für dein Feedback.
Der zuständige Rezensent wurde gefeuert.
Yannik Gölz wurde ebenfalls gefeuert, auch wenn das nichts mit The 1975 zu tun hat.
Herzliche Grüße,
Der Schwinger
*seufz* du bist sooo gut. Ich ärgere mich so, daß ich dich nicht für mein Unternehmen gewinnen konnte. Du wirst deinen Weg gehen.
Wenn du halt auch keine Auskunft über Gehaltshöhe und/oder die Natur deines Unternehmens zu geben imstande bist...
hartgeldstricher ... ein wort, keine fragen mehr
Hurensohn sein Sohn halt....