laut.de-Kritik
"Let's get happy": Indie-Pop statt Grunge-Verzweiflung.
Review von Michael SchuhDie aktuelle Tournee belegt die ungebrochene Faszination für The Cure. Allein in Deutschland kamen insgesamt 90.000 Fans, in den Hallen standen 60-Jährige neben 20-Jährigen. Alle lieben "Disintegration", die meisten warten auf "Lullaby", der Rest auf den "Plainsong". Bis heute spricht Robert Smith persönlich von der 1989er Platte in den höchsten Tönen und positionierte sie 2002 in die Mitte der identitätsstiftenden "Trilogy"-Reihe, umschlossen von "Pornography" und "Bloodflowers". Auch die auf Tour vorgestellten neuen Songs erinnern am ehesten an "Disintegration".
Und wo bleibt "Wish"? Den Sound der Platte würde kaum jemand ernsthaft als DNA von The Cure bezeichnen. In der seit Jahren andauernden Remasters-Reihe ist es nun endlich auch mal an der Reihe und erscheint wie schon die vorigen Alben in einem großen Deluxe-Paket mit unzähligen Demos sowie nach Jahrzehnten wieder auf Vinyl. Auf "Wish" lotete Smith erstmals keine neuen Soundkulissen aus, sondern feierte den Status Quo seiner Band als populäre Finstercombo, die bei Expert*innen für Kajalkunst und Haarspray-Volumina auch mit fröhlichen Popsongs durchkommt.
So entstand eine atmosphärisch heterogene Platte, deren zwölf Songs viele Stimmungen ihrer bis dato 15-jährigen Karriere aufgreifen, ohne dabei grundlegend Neues zu erzählen. "Like throwing arms 'round yesterday", wie es in "A Letter To Elise" heißt. Wir 90er-Jahre-Kids hatten damals natürlich keinen Schimmer, dass "Wish" das Ende einer Cure-Ära markieren würde, dem kein annähernd großartiges Album mehr folgen sollte. Im Frühjahr 1992 war man einfach froh, dass überhaupt noch was kam. Immerhin drohte uns Smith seit Jahren beharrlich mit der Auflösung der Band und benannte 1989 auch noch eine Platte so. In Erwartung gegenteiliger Berichte inspizierte man monatlich das Fachblatt Zillo, erfuhr dort aber von einem hässlichen Rechtsstreit mit dem 1990 gefeuerten Gründungsmitglied Lol Tolhurst.
Dadurch wirkte "Wish", das schließlich zum kommerziell erfolgreichsten Cure-Album überhaupt wurde, fast schon wie ein überraschendes Happy-End. Die luftigen, von Akustikgitarren dominierten Songs entstiegen den morastigen Tiefen musikalischer Schwermut just zu einem Zeitpunkt, als traurige bis depressive Rockmusik plötzlich so angesagt war wie nie. Dazu irritierte Smith seine nach wie vor riesige Schwarzkittel-Gefolgschaft mit Äußerungen wie "Let's get happy".
Ein Gemütszustand, der komplett der Innenansicht aller Beteiligten entsprach. Der ewig zugedröhnte Tolhurst war endlich draußen, Roadie Perry Bamonte stieg auf zum Keyboarder und zweiten Gitarristen. The Cure waren happy und vor allem "Friday I'm In Love" ließ daran nicht den geringsten Zweifel: Eine Hymne aufs Wochenende mit all seinen erinnerungswürdigen Momenten ("It's such a gorgeous sight / to see you eat in the middle of the night"), in der bis zum Höhepunkt all die hässlichen Wochentage abgegrast werden wie in einem Abzählreim. Dazu eine himmelsstürmende Melodie, so eingängig wie ein Kinderlied, und dominiert von Akustikgitarren, die noch wärmer summen als in "Just Like Heaven". Verantwortliche ihres US-Labels sollen nach der ersten Audition schreiend vor Freude über einen kommenden Nummer-eins-Hit umhergesprungen sein, wie Smith damals in einem Interview erzählte. Der Sänger konnte es selbst nicht fassen und telefonierte kurz nach Fertigstellung sämtliche Bekannte ab, um zu erfahren, ob er sich unwissentlich an einem anderen Song bedient habe.
Ein Blick auf die Nacht aus einer komplett anderen Perspektive bietet das Eröffnungsstück: "Open" beginnt mit den Worten "I really don't know what I'm doing here" und spielt auf die feuchten Aftershow-Parties der Plattenindustrie an, denen man als populäre Band ausgesetzt ist und die Kollege Tolhurst aus der Bahn warfen. Musikalisch lässt Porl Thompson gleich mal Rückkopplungen vom Stapel und findet dann in ein drängendes Mahlstrom-Rockriffing, das auf ein dynamischeres Soundspektrum hinweist. "Wish" ist vor allem sein Album.
"Die letzte große britische Band", lobte Robert Plant zum Zeitpunkt der Veröffentlichung - nur um sich Thompson wenige Jahre später als Gitarrist für Page & Plant zu krallen. Die eingängige Vorabsingle "High" setzt nach "Open" den ersten von zahlreichen Kontrasten auf dem Album. Die Leadmelodie von "Wendy Time" wiederum klingt, als hätte Smith seinen Gitarristen vor die Aufgabe gestellt, einen Pop-Song aus der "Japanese Whispers"-Ära irgendwie ins Grunge-Zeitalter zu überführen. Zusammen mit dem unverschämt fröhlichen "Doing The Unstuck" ist es die perfekte Vorbereitung auf "Friday I'm In Love".
"Viele hören nur die Hits und ignorieren die Tiefe des Albums", beschwerte sich Smith schon 1992 im Interview mit "MTV 120 Minutes". Gemeint ist hier wohl vor allem das mit "Disintegration"-Überlänge ausgestattete "From The Edge Of The Deep Green Sea", ein hypnotisches Stück Psychedelic Rock, seither ein Live-Klassiker. Oder die Balladen: Das fatalistische "Apart" (vor allem im instrumentalen Schlussteil) und das opulent arrangierte "Trust" erinnern wieder sehr an den Vorgänger, auch die Themen sind bekannt: "There is no one left in the world that I can hold onto." "A Letter To Elise" wiegt im Takt von "Pictures Of You", gerät aber auch deutlich optimistischer. "Cut" setzt die Tradition wahwahlastiger "Kiss Me Kiss Me Kiss Me"-Tracks fort und lebt von Drummer Boris Williams' funky Drumming, das der Gruppe später fehlen sollte. Zum Schluss legt die Band mit "End" eine träge Doom-Walze vor, die keinen Deut mehr Tageslicht enthält als jeder damalige Pearl Jam-Song.
Die Demos bieten dieses Mal interessante Einblicke in den kreativen Arbeitsprozess der Gruppe. Die B-Seiten dieser Ära zählen Fans zu Smiths Großtaten. "The Big Hand (1990 Demo)" etwa galt lange als potenzieller Albumtrack, das vorliegende Demo liegt schon relativ nah am Original. "This Twilight Garden (Instrumental Demo)" ist auch ohne Gesang fantastisch, "To Wish Impossible Things" sowieso. "A Letter To Elise" ist in einer frühen Version mit anderem Text zu hören, während ausgerechnet "Wendy Time" das interessanteste Demo darstellt: Mit einer komplett anderen Gitarrenline, anderem Tempo und anderem Feeling. "Cut" hieß zunächst noch "Away" und ist in der Demoversion von 1990 ohne jeglichen Thompson-Biss als handzahmes Midtempo-Stück mit Akustikgitarren vertreten.
Zahlreiche unveröffentlichte Demos wie "Miss Van Gogh (Instrumental Demo)" und "Now Is The Time (Instrumental Demo)" sowie vier Tracks der 1993 veröffentlichten Mailorder-Kassette "Lost Wishes", von denen viele im Fahrwasser der Albumtracks schwimmen, runden das Fan-Paket ab. Ähnlich wie die diesjährige Tournee wirft auch diese "30th Anniversary Edition" noch einmal einen Blick auf viele häufig übersehene Songjuwelen im Cure-Katalog. Das sieht sogar der Meister selbst so, der Anfang der Nullerjahre aufgrund der "Trilogy"-Konzerte ständig von "Disintegration" als letztem guten Cure-Album sprach. 2022 gibt er offen zu: "Die Platte hat Facetten, die ich schon vergessen hatte. Es zeigt eine sanfte, sehnsüchtige Seite, die sehr schön ist."
9 Kommentare mit 20 Antworten
♥
Nach Disintegration kam nur noch Müll. Und zuvor gab es auch schon jede Menge Kitsch. Als Jugendlicher hab ich sie aber verehrt.
Dann geh doch Heinz Rudolf Kunze hören und hör auf, rumzujammern, Hater.
Ich bin kein Hater, ich dachte das kann man am letzten Satz raushören.
Absoluter Quatsch. 4:13 Dream ist der einzige Totalausfall, allein schon wegen des katastrophalen Masterings, aber auch wegen der mehrheitlich schlechten Songs. Alles zwischen Disintegration und 4:13 Dream hat jedoch noch zahlreiche große Songs aufzuweisen und Bloodflowers überzeugt auf ganzer Länge.
Wild Mood Swings fand ich ebenfalls ziemlich unterirdisch. Vielleicht waren nach "Wish" meine Erwartungen aber auch einfach zu hoch.
Gib der WMS nach all den Jahren eine neue Chance. Ein paar große Songs sind auch da zu finden. Allen voran das sich zum Live-Klassiker entwickelnde "Want", aber auch "This is a Lie", "Jupiter Crash" oder "Numb". Der zeitliche Abstand tut dem Album gut. Aus heutiger Sicht bewundere ich den damaligen Mut der Band, etwas völlig anderes auszuprobieren.
The Cure goes MOR. Der erste Schritt in die Bedeutungslosigkeit.
From The Edge Of The Deep Green Sea ist ein echter Brocken und gehört ohne Zweifel zu den Top 10 Cure Songs.
Jetzt bitte noch die beiden anhängigen Livealben "Show" und "Paris" in adäquater Form neu auflegen.
Anspieltipp: The Crystal Ocean von The Mission (auf First Chapter); ähnlicher Basslauf, etwas rotziger.
Vor allem "Paris".
Danke, gefällt. Mal sehen ob es A night like this Rotationsanzahl bei mir erreicht.
"Wir 90er-Jahre-Kids hatten damals natürlich keinen Schimmer, dass "Wish" das Ende einer Cure-Ära markieren würde, dem kein annähernd großartiges Album mehr folgen sollte."
Auch wenn Robert Smith Bloodflowers als identitätsstiftend darstellt, will ich stattdessen Mal die self-titled von 2004 als DAS post-Wish-Album von the Cure in den Ring werfen, das der Qualität des Oeuvres bis in die frühen Neunziger locker mithalten kann.
Aber sehr locker. ST ist exzellent!
Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.
Meinten Sie vielleicht Œ?
https://de.wikipedia.org/wiki/%C5%92#Darst…
Fauler Sack.
Bloodflowers war eher ein Nachklapp zu Disintegration.
Wish war damals bei mir untergegangen. Bin nicht der größte Cure Fan, dennoch der Band gewogen. Wish war aber damals zu uneinheitlich, sperrig und in einigen Songs sehr durchschnittlich. Mal gucken ob ich da nochmal ran gehe.
hä? sperrig?? wish ist wohl eines der zugänglichsten cure alben ever? du bist gut du pflaume