laut.de-Kritik
Brian Wilson, Lou Reed & Blixa Bargeld in einem.
Review von Josef GasteigerSpoiler-Alert: "Psychocandy", das bedeutet kreischendes Feedback über Beach Boys-Melodien. Thank you, good night. Aber halt, hier geblieben! Es gibt so viel mehr zu erzählen über die ewige Geschichte der Suche nach der perfekten Mischung aus Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, die dunkle Seite gegen das Licht und, wie im Fall des Debütalbums der schottischen Helden von The Jesus And Mary Chain, Noise und Pop.
Gegensätze ließen sich anfänglich nicht finden, in East Kilbride, eine halbe Autostunde entfernt von Glasgow, der Heimatstadt der Gründerbrüder Jim und William Reid. Stattdessen gab es viel Grau und verdammt viel Negatives. Bergarbeiterstreik und Ausschreitungen beutelten das Land. Die Musiklandschaft zertrat alle Versprechungen des Punks der 70er mit Live Aid und "We Are The World". Als eines Tages ein belangloser Top-40-Act wie Kid Kreole & the Coconuts vom NME-Cover herunterlächelte, gab es für die Reids kein Halten mehr. Eine eigene Band musste her, damit endlich wieder ordentliche Musik im Radio läuft.
Es folgte eine klassische, traumähnliche Erfolgsgeschichte, nur – und das trifft auf jeden Aspekt von The Jesus And Mary Chain zu – wie durch einen abgefuckten, zersplitterten Spiegel gesehen. Ohne wirkliche instrumentale Fähigkeiten, mit zu wenig Equipment und zu viel Alkohol, dafür aber mit dem richtigen Look und der richtigen Attitüde.
Wie der Rest ihrer Generation liebten die Reids, Bassist Douglas Hart und Drummer Bobby Gillespie (der kurz vor der Veröffentlichung ausstieg, ihn ersetzte John Moore) The Stooges und die Punkbands. Entgegen der genretreuen Marschrichtung der Punks trauten sie sich aber auch, ihre Liebe zum Pop der 60er offen zuzugeben, zum Beispiel die zu den Shangri Las.
"Wir verstanden nicht, warum die Leute nicht beide Sachen mögen konnten. Die Kombination aus Melodie und extremem Krach war gleichermaßen wichtig für uns, genau wie Motown oder Glam Rock", diktierte Hart, gefragt nach ihren Einflüssen, 30 Jahre später einem Journalisten ins Mikrofon. Eigentlich ganz einfach: Das Songwritingverständnis von Brian Wilson, den Vibe von Lou Reed, den Weitblick von Blixa Bargeld, und fertig sind The Jesus And Mary Chain.
Mit dieser nicht allzu tief liegenden Latte an Vorbildern schreiben die Schotten Material für ihr Debütalbum. Sie tragen die Titel "Just Like Honey", "Never Understand" oder "Taste Of Cindy" und sind ihrem Fundament purer Pop und geradeaus gespielte Rockmusik. Simple Strukturen, kurze, rasante Lieder. Jeden Song trägt eine zuckersüße Vocalmelodie, vorgetragen in Jim Reids entrückter Distanziertheit, als fühle er sich selbst nicht ganz wohl dabei, so unverhohlen melodisch zu klingen. Schickte man die Beach Boys zwei Sommer lang in die verregneten schottischen Highlands, sie produzierten solches Liedgut. Drums gibts auch, die verzehren sich ebenfalls so sehr nach dem Prädikat "simple", dass schlussendlich Drummer Gillespie live stehend nur abwechselnd auf zwei Trommeln eindrosch.
Der geschichtsträchtige Unterschied und besondere Gegensatz war allerdings die instrumentale und klangtechnische Umsetzung des Ganzen: Alles versinkt im Echo und Gitarrenfeedback. Wolken aus melodiöser Zuckerwatte ummauern lärmende Soundwände. Einzelne Gitarrenanschläge lassen sich kaum mehr ausmachen, es dröhnt, rumort, und nur wenig erinnert daran, dass ein Sechssaiter der Ursprung dieses monströsen Sounds war. Kilometerlanges Echo lullt die Texte ein, die wärmenden Melodien stoßen auf kalte Geräuschkonstrukte. Eigentlich sollte so ein Aufeinandertreffen sofort implodieren und furchtbar klingen. Doch, und das ist einer der schönen Momente der Musikgeschichte, es funktioniert grandios.
Den Sound nur als bloße Effekthascherei abzutun, wäre vermessen. Hingegen injizierte das Quartett ihren Popsongs die notwendige Schicht Hässlichkeit, die man nie ganz abkratzen konnte, um an den wunderschönen, fluffigen Kern zu kommen. Denn das hieße auch, den Krach und den Frequenzmatsch als störende Hürde zu brandmarken. Nur in Verbindung mit den durchschimmernden Melodien realisiert der Hörer: Das Laute braucht das Leise, das Abstoßende das Einladende.
Zudem sorgte die Feedback-Wand für eine höhere Halbwertszeit: "Psychocandy" klingt heute kaum wie ein Album, das vor drei Jahrzehnten aufgenommen wurde. Die Auswirkungen dieser Platte sind vielfältig: Die in den Vordergrund gestellte Noise-Kulisse legt den Grundstein für My Bloody Valentine und alles, das sich Shoegaze nennt. Die nonchalante Coolness im Look & Feel der Band, von den Sonnenbrillen über die enge Lederkluft bis hin zu den Robert Smith-Frisuren, spiegelt sich heute in jeder zweiten Indiekapelle wider.
Tatsächlich gibt es es nur wenige Gruppen, denen so unverfroren nachgeeifert wird, siehe zum Beispiel The Vaccines. Das natürlich mit gutem Recht. Denn neben dem bahnbrechenden Klang ist die Qualität der 14 Songs, die zusammen "Psychocandy" ausmachen, nach wie vor ungebrochen. Schlagkräftige Dreiminüter, alle auf Augenhöhe, sorgen für ein Debütalbum ohne einzigen Ausfall. Vom anschmiegenden "Just Like Honey" über krachende Stooges-Versatzstücke wie "Taste The Floor" oder dem ramonesken "The Living End". Von der relaxten, mit vielen "Dadadas" und "Heyheyhes" geschwängerten Herion-Ballade "Cut Dead" bis zur catchy Teenage Angst-Hymne "Never Understand". Jede Nummer hat das Zeug zum definitiven Hit einer Band. Doch nur The Jesus And Mary Chain packten mehr als zwei Dutzend dieser Art auf ihr Debüt-Album.
Inmitten der anfänglich ausfallenden Performances, dem ständigen Brüderstreit, der dem der Gallaghers in Nichts nachstand, und dem Alkohol schrieben Jim und William ein Albumjuwel voller Rocksongs mit klassischen Popmelodien, geworfen in ein noch nie dagewesenes Fass voller kreischender, kratzender und fauchender Sounds, denen selbst die nächsten drei Dekaden nichts werden anhaben können.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
14 Kommentare mit 6 Antworten, davon 6 auf Unterseiten
Könnt ihr nicht einmal Meilensteine in der Rubrik ''Meilensteine'' rezensieren?!
Wurde auch Zeit. Eines der wichtigsten Alben für die Entwicklung des Indie, des Noise Pop, des Latin Jazz und überhaupt von allem wo gibt. Jetzt noch Nowhere, dann ist die Meilenstein-Rubrik fertig.
Nix fertig, ehe Slint nicht ihren verdienten Meilenstein erhalten, ebenso wie die Cocteau Twins und Aphrodite's Child. Allen fehlt zudem noch eine Bio. Die allerletzte Rezi kommt ohnehin erst im Jahr 3030.
und souvlaki ihr neger
Bin ich nicht sonst immer der Spiderland-Prediger? Das ist ja so gar nicht meine Art, Slint zu unterschlagen.
@elbow
deltron?
Jupp. Werde mich extra für über eintausend Jahre einfrieren lassen, um mir die Rezension frisch vom Sprachcomputer des Modells "Ehrendude 3000" mit lautivoice vortragen zu lassen. Bis dahin hat er genug Zeit daran zu feilen.
bis dahin weiß er dann auch bestimmt dass deltron mehr als einer ist wie das letzte abendmahl
Danke für die Rezi, Jupp.
Würdiger Meilenstein.
Bin allerdings erstaunt, wieso "Lost in translation" nicht erwähnt wird. Ist doch wohl ein Meilenstein der Filmgeschichte und gehört damit wohl zur Wirkungsgeschichte des Albums (oder weiß das jeder, falls ja, vergiss es....)
Exakt seit ich dieses Album kenne, habe ich einen hervorragenden Musikgeschmack. Danke für den Stein.
Hab die Version mit "Some Candy Talking" erwischt. Zum Glück, weil es gerade zu Beginn, als ich mich mit der Lärmigkeit noch ein bisschen anfreunden musste, eines meiner Lieblingsstücke war, eigentlich immer noch ist.
Dranbleiben hat sich sehr gelohnt, gehört für mich zu den wenigen Alben, auf denen tatsächlich jeder Song gut ist.
..schon fast ein Klassiker !! 5/5