laut.de-Kritik

Die Nick Cave des Schlagers.

Review von

Nichts auf der Welt ist so grausam und so schwer zu verstehen wie die Realität. Kein Wunder, dass Menschen sich in unzählige Verschwörungstheorien flüchten, mit denen sie sich vom Schmerz und der Härte des Lebens ablenken. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Dementsprechend ranken sich zahlreiche Geschichten und Gerüchte um den 31. Juli 1969. Um den Moment, in dem Alexandras Mercedes 220 SE Coupé, in dem auch ihre Mutter und ihr Sohn saßen, mit einem Lastwagen kollidierte. War es Selbstmord? Hatte jemand den Wagen vorab manipuliert? Hatten der KGB oder der amerikanische Geheimdienst die Finger im Spiel? Warum kaufte die Sängerin kurz vor ihrem Tod ein Grab? War es am Ende Selbstmord? All dies soll von etwas ablenken, das so normal ist wie alles im Leben: dem Tod. Alexandra stirbt zusammen mit ihrer Mutter an einer Kreuzung in Tellingstedt. Nur ihr Sohn überlebt das Unglück.

Alexandras hoffnungsvolle Karriere hatte gerade einmal zwei Jahre zuvor begonnen. Die Nick Cave des Schlagers verfügte dank ihrer tiefen, klagenden Stimme über eine intensive Schwere. Die allgegenwärtige Melancholie und Traurigkeit des jungen Scott Walkers durchzogen ihre Musik. In ihren Texten entdecken wohl nur hoffnungslose Optimisten, die selbst ein ausgetrunkenes Glas noch für voll halten, etwas Aufbauendes und Fröhliches.

Mit den angesprochenen Themen war sie ihrer Zeit voraus. Ein Äquivalent zu ihrem zweiten Album "Alexandra", auf dem sie deutlich mehr bestimmte als auf ihrem Debüt, findet man in der heutigen Musiklandschaft nicht etwa beim Schlager einer Helene Fischer, sondern vielmehr bei den Last Shadow Puppets.

Nach dem Erfolg ihrer ersten Single "Zigeunerjunge" folgte die Schnulze "Sehnsucht", die sie laut ihrem Produzenten Fred Weyrich so sehr hasste, dass sie sie nur unter Protest und mit Tränen in den Augen genau ein einziges Mal einsang. Diese festigte ihre Außendarstellung als slawische Seele mit folkloristischem Einschlag. Die Plattenfirma Philips-Phonogram hatte sich am Reißbrett ihren nächsten Star gebastelt. Fast hätte so auch für Alexandra die so oft im Schlager der Sechziger herangezogene Maxime "Stempel drauf, Künstler tot" gegolten.

Der Kunde im vom Fernweh gepackten Deutschland der 1960er musste bedient werden. Ganze Schlager-Karrieren basierten alleine auf der Zuordnung, welches Land man anschmachtete. Die einen sangen von Spanien, der andere von Griechenland, und die vielsprachige Alexandra eben von der Sowjetunion. Die Stichwörter, auf die das Publikum anspringen sollte, lauteten "Moskau", "Russland", "Balalaika", "Taiga", "Anouschka" und "Kaukasus". Natürlich fühlte sich die Sängerin mit ihren Wurzeln im damaligen Heydekrug von allem Slawischen und der Sowjetunion angezogen. Das Korsett war Alexandra, die viel zu groß für das Nachkriegs-Deutschland war, jedoch von Beginn an deutlich zu eng.

In einem Umfeld, das aus Rockern Schnulzenkönige formte und in dem Jazz-Musiker ihre Freunde baten, ihr Können nicht nach außen zu tratschen, begehrte sie auf. Sie entwickelte sich in Richtung Chanson, schloss Kontakte mit Adamo, Gilbert Bécaud, Yves Montand und dem Brasilianer Antonio Carlos Jobim. Auf ihrem Debüt "Premiere Mit Alexandra" steht der typische Ralph Siegel-Schlager "Alles Geht Vorüber" neben dem fulminanten Serge Gainsbourg-Cover "Akkordeon (Accordéon)".

Um ihr Werk ganz verstehen und ein komplettes Bild von Alexandra zu erhalten, ist es dringend nötig, auch die Veröffentlichungen abseits ihrer zwei Longplayer zu beachten. Das schmerzhafte, zusammen mit Udo Jürgens geschriebene und von tiefschwarzer Melancholie getragene Glanzstück "Illusionen", das später mit neuem Text und unter dem Namen "If I Never Sing Another Song" jede Sammy Davis Jr.-Show beendete. Die Traurigkeit und Verzweiflung, die das Serge Lama-Cover "Was Ist Das Ziel? (Les Ballons Rouges)", die B-Seite des verhassten "Sehnsucht", umgibt. Fred Weyrich schrieb ihr einen mit Tränengarantie ausgestatteten Text, der schonungslos einen Blick auf die Vergänglichkeit wirft. Ihr Vortrag in diesem Soundtrack zur Herbstdepression sorgt unweigerlich für Gänsehaut. "Doch der, der Trost sucht, sollte lernen / er ist vergänglich wie das Glück."

Ihren eigenen Vorstellungen kam sie jedoch am nächsten, sobald sie ihre Songs komplett alleine schrieb. Schaffte es auf ihr Debüt mit "Die Anderen Waren Schuld" nur ein mit Ernst Bader verfasstes Lied, landeten auf "Alexandra" bereits vier Eigenkompositionen und sechs Texte auf der Platte. Mit "Mein Freund, Der Baum" und "Der Traum Vom Fliegen" gelangen ihr zwei Meisterstücke, weit abseits von den ihr auferlegten Klischees. Der Preis dafür waren Ablehnung und Unverständnis. Zu Lebzeiten verkaufte sich der Longplayer gerade einmal 12.000 Mal.

Obwohl sie das europäische Naturschutzjahr 1970, das als Geburtsjahr der modernen Umweltbewegung gilt, nicht mehr erleben sollte, veröffentliche sie mit "Mein Freund, Der Baum" bereits 1968 das dazu passende Plädoyer. Eine Hymne für den Umweltschutz, deren Ästhetik mit ihren hohen, prunkvollen Streichern, die das Gegenstück zu Alexandras tiefer Stimme bilden, im damaligen Schlager-Umfeld wie ein Fremdkörper wirkte. Ein wehmütiger Song, der erst nach ihrem Tod zum Klassiker aufstieg. Abseits der offensichtlichen Botschaft im bis heute ungewöhnlichen Text thematisiert das Stück den Verlust eines väterlichen Freundes, den Abschied von der Kindheit und der Heimat und die unausweichlichen Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt.

"Der Traum Vom Fliegen" zeigt deutlich, über welches Potenzial Alexandra als Songwriterin verfügte. Ein sehnsuchtsvolles Chanson, nachdenklich, tragisch und mit prächtigem Arrangement, das sie wie bei der restlichen Platte in einer intensiven Zusammenarbeit mit Boris Jojić detailliert ausklügelt. Die Geschichte eines Herbstblattes, das vom Fliegen träumt, diesen Wunsch für einen kurzen Moment erfüllt bekommt und ihn letztendlich "auf der Straße" in seinem "regennassen Grab" bereut. Die melodramatische Metapher über Hoffnungen und der erbarmungslosen Realität, die letztendlich auch auf seine Autorin zutraf, beschert einen dicken Kloß im Hals. Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.

"Grau Zieht Der Nebel" bezieht seine Grazie aus der Trostlosigkeit. Ohne einen Funken Hoffnung umschreibt die deutsche Version von Adamos "Tombe La Neige" das Leiden nach einer Trennung. Ein depressiver Chanson mit eiskaltem Herzen, dessen Leere nur Alexandras herzzerreißend vibrierende Stimme durchbricht.

Das von den Spaniern Manuel Alvarez Maciste und Andrés Eloy Blanco geschriebene "Angelitos Negros" interpretierten unter anderem auch Eartha Kitt, Caterina Valente und Roberta Flack auf ihrem herausragendem Debüt "First Take". Eine interessante Entwicklung machte der von Ralph Maria Siegel nahezu wörtlich übersetzte Text "Schwarze Engel", einst ein Statement gegen Rassismus und Apartheid, durch. In den letzten fünfzig Jahren überholten ihn der Zeitgeist und die Entwicklung unserer Sprache komplett. "Sagt warum malt ihr denn nur weiße Engel / die vom blauen Himmel schweben? / … / Warum, denkt ihr denn nie daran / dass auch ein Engel schwarz sein kann?" Was einst als Aufruf zur Aufhebung der Rassentrennung begann, rutscht dank der Verwendung des N-Worts im weiteren Text von gut gemeint in mehr als unglückliche Formulierungen ab.

Aus Bourvils "La Tendresse" dichtet Weyrich "Die Zärtlichkeit (La Tendresse)". Den Wunsch nach Liebe, der über den materiellen Werten steht, interpretiert Alexandra eindringlich. Ein Cembalo durchdringt "Am Großen Strom", das auf einer alten russischen Weise beruht. Mit "Mein Kind, Schlaf Ein" schrieb die Sängerin ihrem Sohn ein düster eingefärbtes Wiegenlied. "Ach, du kennst noch keine Not / weißt noch nichts von Krieg und Tod / deine Welt ist hell und licht / bis der Kindheit Traum zerbricht."

Gerade einmal sechs Jahre alt ist Alexander, als seine Mutter und seine Großmutter sterben. Die Erklärung für dieses Unglück scheint letztendlich furchtbar ordinär. "Alexandra war eine schlechte Autofahrerin", erklärte ihr Manager und Liebhaber Hans R. Beierlein in einem späten Interview. "Einen Tag vor dem Unfall saß ich noch bei ihr im Wagen. Ihr Fahrstil war so gefährlich, dass ich ausstieg, weil ich Angst bekam. Der Unfall ist passiert, weil Alexandra nicht aufpasste und ein Stoppschild überfuhr." Eine ebenso triviale wie brutale Einsicht.

Ein einfacher Autounfall hat Deutschlands aufwühlendste Stimme viel zu früh für immer verstummen lassen. Aus der deutschen Chanson-Hoffnung wird ein Mythos, der eine Lücke hinterlässt, die seither niemand füllen konnte. Auf Doris Nefedovs Grabstein steht nur ein Name: Alexandra.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Ja Lublú Tebjá (Ich Liebe Dich)
  2. 2. Die Zärtlichkeit (La Tendresse)
  3. 3. Grau Zieht Der Nebel (Tombe La Neige)
  4. 4. Hereinspaziert
  5. 5. Am Großen Strom
  6. 6. Mein Freund, Der Baum
  7. 7. Der Traum Vom Fliegen
  8. 8. Der Große Clown
  9. 9. Schwarze Engel
  10. 10. Im Sechsten Stock
  11. 11. Tanz, Alter Tanzbär
  12. 12. Mein Kind, Schlaf Ein

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