laut.de-Kritik

Voll in die Fresse, mitten ins Herz und geradeaus ins Hirn.

Review von

Eigentlich wollten Atari Teenage Riot eine Pause einlegen. Doch die Zeiten sind nicht danach. Seit der letzten Platte "Is This Hyperreal" hat sich die Menschheitsgeschichte noch verfinstert. Doch ATR verstehen sich seit jeher nicht nur als Kunst, sondern ebenso als aufrüttelnde Elektrobestie der anarchistischen Gegenkultur und Aufklärung. Das neue Album "Reset" trifft mal wieder voll ins Schwarze.

Nunmehr, da viele ihrer Themen in der breiten Masse und der Mitte der Menschen angekommen sind, erhöht sich die Bedeutung der Texte Alec Empires und Nic Endos auf "Reset". Jedes Wort eine Botschaft, jede Zeile ein Statement. Empire: "'Reset' ist eine Hymne an die Internet-Aktivisten. Der Überwachungsstaat hat direkten Zugriff auf die Privatsphäre. Das ist lebensgefährlich für das demokratische System. Diese Themen beeinflussten das Songwriting. 'Reset' ist nicht nur Musik zum Spaß haben!"

Dennoch machen die zehn neuen Tracks großen Spaß. Fetter Digital Hardcore voll in die Fresse, mitten ins Herz und geradewegs ins Hirn. Neben den charismatischen Hauptakteuren Empire und Endo gibt es mit dem Raps einstreuenden Londoner Rowdy SS auch ein neues Gesicht an der Elektrofront. So nimmt der strukturiert ratternde Wahnsinn seinen noisigen Lauf. Wer immer dachte, Ministry oder Prodigy wären nicht hart und schnell genug, wird an diesem Steckdosengemetzel seine helle Freude haben.

Wer die neuen Lieder in Gänze bewusst hört, vernimmt hinter dem ganzen hyperaktiven, in Lichtgeschwindigkeit servierten Fratzengeballer der Klänge auch die stets system- und sozialkritische Note. Nicht nur beim Titelsong oder dem straighten Opener "J1M1" lohnt sich genaueres Hinhören. "Don't let it break you!"

Empire findet auf Albumlänge mal wieder - von NSA bis Querfront, Reichsbürgertum, Pegida und co - alle übel. Bis auf Edward Snowden, in dem er eine Art modernen Aufklärer sieht. "Snowden hatte Einfluss auf die Tracks. Er zeigt, dass der kritisierte Inhalt unserer Songs nicht dystopisch oder hypothetisch ist, sondern real bewiesen."

Erstmals seit langer Zeit bekommt zwischendurch auch die sektenhaft organisierte, deutsche Intoleranz samt ihrer neuen Gurus ihr Fett ab. "Ich empfinde die neuen Rechten in Deutschland als Bedrohung. Ihr Blick auf Fremde, Immigranten, Juden etc. ist fast schon Neonazitum." All diese Botschaften knallt die Band einem pointiert und agitativ mit Stücken wie "New Blood" um die Ohren. Als seien die Ataris ein lebender Presslufthammer, der die um Empathie und Solidarität gebauten Mauern der Menschheit im Sturm attackiert und einreißen will.

Ihre Ausdruckskraft erhält diese einzigartige und von ihnen erfundene elektronische Musik durch die gelegentlich eingefügten Passagen starker Atmosphäre. "Death Machine" etwa beinhaltet solche in sich ruhenden Momente. Auch die hypnotisch enervierende Klettverschluss-Psychedelik von "Erase Your Face" bietet einen ästhetisch sehr effektiven Kontrast zu den Schredderparts der meisten Lieder.

Zum Ausklang gibt es mit dem - für ATR-Verhältnisse nahezu eingängigen - "We Are From The Internet" sogar einen richtig tanzbaren Elektrorock- Klopper der Extraklasse. Der treibende Song schreit geradezu danach, ein Hit der Underground-Clubs zu werden. Auch im Jahr 2015 beweisen Atari Teenage Riot mit "Reset" mithin, dass sie nach mehr als 20 Jahren Bandgeschichte noch immer unbequem sind und längst nicht zum alten, elektrischen Eisen gehören.

Trackliste

  1. 1. J1M1
  2. 2. Street Grime
  3. 3. Reset
  4. 4. Death Machine
  5. 5. Modern Liars
  6. 6. Cra$h
  7. 7. New Blood
  8. 8. Transducer
  9. 9. Erase Your Face
  10. 10. We Are From The Internet

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12 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 9 Jahren

    Man. Nachdem ich mich zum ersten Durchgang gedrängt habe, bin ich etwas ratlos. Positive Lichtblicke sind zumindestens "Transducer" und "Erase Your Head", wo man mal so was wie Entwicklung raushört. Warum denn nicht gleich so? Vieles auf der Platte klingt doch uninspiriert und flach.

  • Vor 9 Jahren

    Ich versteh die Kritik bzgl keiner Weiterentwicklung nicht ganz. Die Sachen aus den 90s waren deutlich mehr Input Overdose mit ihrem Hardcore Techno Geballer als jetzt die Aktuelle oder ITHR. Inzwischen kann man eine Platte auch mal am Stück durchhören ohne schirr den Verstand zu verlieren. Ich mag die neue Platte, auch wenn ich den Input Overdose Faktor ein bißchen vermisse :D

  • Vor 9 Jahren

    Auf mich kommen die Songs ein bisschen plump rüber. Bei J1M1 dachte ich, ich lausche einer DHR Schlagerparade. Mir fehlt bei den Songs das Element der Unberechenbarkeit, der Balanceakt zwischen Genie und Wahnsinn. Ich will bei einer ATR Platte nicht das Gefühl haben mich zurück lehnen zu können um in meinem Kalender die Termine der nächsten Woche zu prüfen, weil Linda vom Marketing am Mittwoch Brunch vorgeschlagen hat...