laut.de-Kritik

Jazz- und Blues-Klassiker voller Erotik, Sehnsucht und Schmerz.

Review von

New York im Juli 1959: "Sunday is gloomy." Das Herz einer der großartigsten Musikerinnen aller Zeiten, es schlägt nicht mehr. Die schwüle Sommerhitze macht den ausnahmslos aus Showbizgrößen bestehenden Sargträgern zu schaffen. Alle Liebe, die Billie Holiday in ihrem nur 44 Jahre währenden Leben vergeblich suchte, schenkt die Nation ihr im Tode. Einen historischen Moment lang hält der Puls des Big Apple inne. Zigtausende Bürger strömten aus den Avenues zur Beerdigung und legen weite Teile des Verkehrs lahm. So schnell ihr Lebensfunke erlosch, so ungebrochen lodert das Feuer ihrer Musik bis heute.

"Sie hatte viel zu vergessen und uns doch so viel hinterlassen", sagt Pianist Hank Jones über seine Bandleaderin. Die Menge ausnahmslos brillant intonierter, teilweise selbst verfasster Songs ist bemerkenswert. Ein Großteil der Stücke, darunter nahezu alle Kernlieder, erschienen in den 30er und 40er Jahren. Billie Holiday veröffentlichte über 200 Hits auf mehr als 120 Singles, bei denen die Grenzen zwischen A- und B-Seite oft verschwammen. Das Format typischer LPs, wie wir es kennen, etablierte sich erst im Verlauf der 50er Jahre. Da hatte sie den Großteil ihrer musikhistorisch bedeutenden Aufnahmen längst erbracht. Aus diesem Grund fiel die Wahl auf die vorliegende Kompilation als Meilenstein: ein Sampler, der Einsteigern wie Kennern gleichermaßen gefallen sollte.

Das Immense, das Holiday zu vergessen suchte, bildete gleichermaßen die Triebfeder und den Hemmschuh ihrer künstlerischen Karriere. Die Liste tragischer Ereignisse würde für zehn Leben reichen. Deshalb hier nur ein kurzer Abriss: Der Vater war nicht präsent, die Mutter lieblos, egoistisch und verwahrlost. Als Neunjährige wegen Schulschwänzerei monatelang ins Erziehungsheim verfrachtet und dort misshandelt. Mit zehn vom Nachbarn vergewaltigt. Wieder zurück ins martialische Erziehungsheim, dessen brutale Züchtigungen sie nachhaltig traumatisierten. Mit elf von der Mutter ins Bordell geschleppt, wo sie zunächst als Botenmädchen, wenig später als Prostituierte arbeiten musste, um zu überleben. Etliche weitere Schicksalsschläge kamen in den folgenden 30 Jahren hinzu.

Ausgerechnet in den Hurenhäusern kam Billie Holiday über Platten von Bessie Smith oder Louis Armstrong zur Musik, entwickelte ihren berstenden Freiheitsdrang und tingelte bereits mit 14, 15 Jahren durch verruchte Kaschemmen der Stadt. In dieser Zeit entstand ihre einzigartige Art, so zu singen, wie man es auf den hier vertretenen Lieder hört. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass ihre Stimme nicht die allergrößte Bandbreite aufweist. Folglich ging sie stattdessen in die Tiefe und kreierte einen atmosphärisch unerreichten Ausdruck, dessen Intensität augenblicklich gefangen nimmt.

Diese Methode war in zweierlei Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen packte Billie Holiday allen Blues, den ihr das Leben bescherte, in ihre Stimme und lieferte dem damals modisch-ausgelassenen Swing einen sinnlichen Gegenpol. Ihr Gesang bestand aus Erotik, Sehnsucht und Schmerz. "Dunkle Göttin", "Königin der Nacht" oder "Märtyrerin des Jazz" nannte man Billie, und alles stimmt. Man höre nur das hier vertretene, ewige Aushängeschild "Gloomy Sunday" in seiner ganzen suizidal gepeinigten Authentizität. Auch wenn das Stück nicht von ihr stammt: Weder vor noch nach Holiday hat je eine Version diesen Gipfel melancholischer Einsamkeit erklommen. Zurecht assoziiert man den Track seit 1941 mit Lady Day.

Zum anderen eignete sie sich die Fähigkeit ihres Vortrags nicht etwa über gesangliche Vorbilder an. Holiday lernte besonders von Instrumentalisten wie dem besten Freund Lester Young. Lester, ebenfalls eine Ikone seiner Zeit und genau so kaputt wie Billie, erfand nicht nur den Spitznamen "Lady Day", sondern arrangierte vieles mit ihr und ist hier auf etlichen Nummern zu hören. Diese Ausrichtung eigener Vocals auf die Instrumente erklärt ihre Fähigkeit, sich binnen Sekunden auf jegliche Besetzung und Musiker einzustellen. Holiday wusste immer, wohin der jeweilige Song wollte, nahm den Faden des Ensembles auf und führte sanft, doch mit unerbittlichem Stahl im Rücken ans Ziel.

Zwei weitere Stücke empfehle ich als unverzichtbare Anspieltipps: "God Bless The Child" schrieb sie 1942 aus erneut leidvoller Erfahrung. Gebeutelt von Heroin- und Alkoholsucht erbat sie von ihrer Mutter etwas Geld. Letztere hatte sich längst abgesetzt, beutete den Ruhm der Tochter für eigene Zwecke aus und führte ein Restaurant namens "Mama Holiday". Für ihr eigen Fleisch und Blut hatte sie indes nichts übrig und wies Billie die Tür. Enttäuschung und Sarkasmus gebaren diesen Song, der sich zum Standard entwickelte. Zu viele berühmte Coverversonen variierten die Nummer leider als weihnachtliches Rührstück.

Den absoluten Höhepunkt markiert trotz allem "Strange Fruit". Es zeigt die politische und kämpferische Seite Holidays und wurde ein Welterfolg. Obwohl sie Bewunderer wie Frank Sinatra beeinflusste und unter Kollegen hohes Ansehen genoss, sah Billie Holiday sich zeitlebens mit auszehrendem Rassismus konfrontiert und musste in Hotels oder bei Gigs Personal- oder Hintereingänge nutzen.

Einzige Ausnahme bildete ab 1938 das freigeistige Café Society, der erste New Yorker Nachtclub, in dem afroamerikanische Künstler gleichberechtigt agierten. Dessen Besitzer zeigte Holiday ein Gedicht des jüdischen Autors Abel Meeropol, aus dem in jenen Tagen dieser Song gegen weiße Lynchmobs entstand. Holidays Urversion enthält alle Leidenschaft, Verzweiflung und kämpferischen Zorn, der das Lied um die Welt schickte. Es gilt heute nicht nur als Protestsong, sondern als erster seiner Art überhaupt. "Southern trees bear strange fruit / Blood on the leaves and blood at the root / Black bodies swinging in the southern breeze / Strange fruit hanging from the poplar trees."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. What A Little Moonlight Can Do
  2. 2. These Foolish Things
  3. 3. Summertime
  4. 4. Billie's Blues
  5. 5. I've Got My Love To Keep Me Warm
  6. 6. Why Was I Born
  7. 7. I Must Have That Man
  8. 8. I'll Get By (As Long As I Have You)
  9. 9. Mean To Me
  10. 10. When A Woman Loves A Man
  11. 11. You Go To My Head
  12. 12. The Very Thought Of You
  13. 13. I Can't Get Started
  14. 14. Them There Eyes
  15. 15. All Of Me
  16. 16. God Bless The Child
  17. 17. Gloomy Sunday
  18. 18. Strange Fruit
  19. 19. Fine And Mellow
  20. 20. Lover Man (Oh, Where Can You Be)

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8 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 6 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 6 Jahren

    Hat ein bisschen was von Voyeurismus aber Künstler mit solch kaputter Biografie ziehen mich magisch an. Und da ich (ausschließlich) mit weiblichen Jazz Sängerinnen der Neuzeit durchaus etwas anfangen kann fügt sich eine Best of Holiday wunderbar in meine Vinyl Sammlung ein. Wunderbar geschriebene Rezi (selles kann der guhde O‘walt hold oi‘fach)