laut.de-Kritik
Ein markerschütternder Schrei: Synthie-Pop als linkspolitische Kampfansage.
Review von Michael SchuhEin markerschütternder Schrei, in dem alles steckt. Frust, Enttäuschung, Verzweiflung und vor allem Wut: "Tell me why". Man versteht es nicht, wenn man den Satz hier so liest, man muss ihn hören und man muss ihn aus dem Mund von Jimmy Somerville hören, der ihn im Jahr 1984 im Alter von 23 Jahren in einer Tonhöhe vorträgt, die Gläser auf Wandregalen klirren lässt. "Tell me whyyy-ihh-ayyyyyyyyyy".
Es ist vielsagend, dass allein seiner Stimme der Auftakt des ersten Bronski Beat-Albums gebührt. Zwei Mal kreischt er dem Hörer die Frage entgegen, bevor ihm seine Kollegen Larry Steinbachek und Steve Bronski mit dem seinerzeit sündteuren Synclavier-Hard Disk-Sequencer den tanzbaren Synthie-Pop-Klangteppich von "Why?" unterjubeln. Die Arbeitsteilung der Gruppe ist schnell erklärt: Die Songs stammen von von Steinbachek und Bronski, die Texte und Gesangsmelodien von Somerville.
Doch der aufrührerische Impetus seiner Zeilen in Verbindung mit dieser unvergleichlich hohen Stimme führen schnell dazu, dass Bronski Beat weniger als Gruppe denn als Soloprojekt dieses auffälligen Sängers angesehen wird. Der schließlich im Gegensatz zu den doppeldeutigen Anspielungen und der Respektlosigkeit von Frankie Goes To Hollywood das Thema Homosexualität und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kämpfe, insbesondere aus der Sicht der Arbeiterklasse, knallhart zu Papier bringt. Synthie-Pop als linkspolitische Kampfansage, das gab es in dieser Form bis dato nicht.
Der Frust, die Enttäuschung und die Wut, es hatte sich alles lange angestaut in dem sehr kleinen, sehr charismatischen Schotten, der als Teenager für ein Mädchen gehalten wurde und seine Heimat, das Glasgow der bierseligen Pub-Ressentiments, daher früh in Richtung London verlässt. Auf der Suche nach Akzeptanz unter Gleichgesinnten. Er findet sie bald in einer alternativen Szene, die sich zur Aktivisten-Community mausert, da sich die ausgegrenzte Jugend von der ersten britischen Schwulen-Emanzipationsbewegung der 70er Jahre kulturell und optisch abheben will.
Lederkäppis oder Schnurrbärte sind verpönt, der neue Dresscode verlangt nach einem Bürstenhaarschnitt mit abrasierten Seiten, Levi's 501, Karohemd, Bomberjacke und Dr. Martens-Stiefel. Man tanzt zur elektronischen Musik von Kraftwerk, Soft Cell und Visage, zur Musik von geschminkten Männern. Somervilles Gesangstalent ist lange kein Thema, es geht ihm um das Aufbrechen vermeintlich in Stein gemeißelter sozialer Normen, um Haltung und Gerechtigkeit.
Seine Clique hängt im schwulen Buchladen Gay's The Word ab, dem Hauptquartier, wo über kommunistische Theorien, Theaterstücke, Underground-Filme oder die neue Medienform Video diskutiert wird. Für den Kurzfilm eines Freundes lässt Jimmy dann auch erstmals seine Stimme erklingen, für alle Anwesenden offenbar eine Art Erleuchtung. Niemand habe sich im Entferntesten vorstellen können, dass "aus diesem schottischen Arbeiterjungen mit der tiefen, knurrenden Stimme plötzlich diese Stimme eines Engels" kommen würde, wie sich sein späterer The Communards-Kollege Richard Coles in der Biografie "Fathomless Riches" erinnert.
Auch die beiden Keyboarder Bronski und Steinbachek hören von diesem Ereignis und konfrontieren Somerville mit ihren Demos. Von diesem Zusammentreffen bis zur Veröffentlichung von "The Age Of Consent" und Auftritten bei "Top Of The Pops" vergehen weniger als zwölf Monate, ein Karriereschub im Zeitraffer, was sich zunächst als Segen, später dann als Fluch erweisen sollte. Nach nur einer Handvoll Auftritten auf Underground-Kunstfestivals stehen bereits Label-Scouts im Publikum, wo sie mit Pop-Preziosen wie "Why?" und "Smalltown Boy" konfrontiert werden, heute zwei der bekanntesten Songs der 1980er Jahre.
"Smalltown Boy", die Bronski Beat-Debütsingle, obschon von einigen Radiostationen als "fag music" verunglimpft, schlägt 1984 in zahlreichen europäischen Ländern sowie in den USA ein. Nur den Muttersprachlern ist jedoch die ganze Magie der Komposition vorbehalten. Die meisten Käufer verkennen die Intention des Textes, die von Somervilles Flucht aus Glasgow handelt, der Flucht vor den schlimmen Teenagerjahren, vor der Armut und den Schamgefühlen. Zum hämmernden Hi-NRG-Beat der Zeit kreieren Steinbachek und Bronski eine zeitlose, fragile Melodie voll Sehnsucht und Verlangen, ein Anti-Macho-Manifest in Moll.
Somervilles Text berührt die Ängste und Bedürfnisse sämtlicher gesellschaftlicher Außenseiter: "You leave in the morning with everything you own in a little black case / alone on a platform the wind and the rain on a sad and lonely face (...) pushed around and kicked around always a lonely boy", eine Situation, die nur eine Lösungsoption bietet: "Run away, turn away, run away, turn away, run away."
Doch vor allem ist "The Age Of Consent" ein mutiges Falsetto-Manifest für gleichgeschlechtliche Liebe und deren Akzeptanz. In einer Zeit, in der Homosexuellen in etwa das gesellschaftliche Standing von Pädophilen vorbehalten war, wo offenkundig homosexuelle Künstler wie Erasure, Pet Shop Boys oder Boy George schweigen, legt Somerville alle Karten auf den Tisch: "Contempt in your eyes as I turn to kiss his lips". Von niemandem wird sich dieser drahtige Mann zukünftig mehr kleinmachen lassen, so die Botschaft, er und sein Partner, er und seine LBQT-Community, wie man heute sagen würde, für sie gilt ab sofort: "You and me together / fighting for our love."
Passend dazu druckt die Band das Mindestalter für gesetzlich erlaubte Homosexualität in allen europäischen Ländern neben die Songtexte der Platte. Während man in Deutschland und der DDR erst 18 Jahre alt werden musste, durfte man ausgerechnet in Polen schon mit 15 und in Ungarn mit 10 (!) rechtmäßig homosexuelle Bindungen eingehen.
Natürlich überstrahlen die Chart-Hits "Why?" und "Smalltown Boy" die übrigen acht Songs. Dennoch gelingen Bronski Beat mit dem kontemplativ-jazzigen "Screaming", der Tonleiterakrobatik von "Heatwave", der Yuppie-Kritik "Love And Money" ("Money is the root of all evil / Hey - Yah - Hey") und vor allem dem pointiert betitelten "Need A Man Blues" noch echte Glanzmomente. Nicht zu vergessen die beiden Covers: "It Ain't Necessarily So" aus Gershwins "Porgy And Bess" und "I Feel Love", der Giorgio-Moroder-70s-Disco-Dampfhammer von Donna Summer, der 1982 in der Patrick-Cowley-Version endgültig zu einem Klassiker in Gay-Zirkeln avanciert.
"No More War" dagegen ist ein relativ simpel formulierter Antikriegssong ("No more sending young men to fight / as they die for false glory and false pride") und "Junk" eine vernachlässigbare Bestandsaufnahme von Londons Drogenszene. Hier hat man plötzlich den Eindruck, dass es dem Label Ende 1984 nicht schnell genug gehen konnte, endlich das Debütalbum des jungen Trios unter die Leute zu werfen. Zu schnell für Somerville. Vom Riesenkommerz des Popgeschäfts abgeturnt, stellt der Sänger bald fest, dass er für den hektischen Popstar-Lifestyle nicht geschaffen ist. Selbst die regelmäßigen Champagner-Partys der Branche, auf die etwa auch sein Freund und "I Feel Love"-Gesangspartner Marc Almond steht, verlieren schnell ihren Reiz. Als der Sänger dann nicht nur den feuchten Popstar-Traum der 80er schlechthin, eine Japan-Tournee, ausschlägt, sondern auch noch ein Support-Angebot für die "Like A Virgin"-US-Tournee von Madonna, kommt es zum offenen Konflikt mit Steinbachek und Bronski.
Somerville verlässt die Band im Mai 1985 und gründet mit dem engen Freund Coles The Communards. Seine Ex-Kollegen veröffentlichen mit neuem Sänger das überflüssige "Truthdare Doubledare" und verschwinden danach von der Bildfläche. Nach zwei Alben mit Cole beginnt Somerville eine Solokarriere. Die Message von "The Age Of Consent" bleibt leider aktueller denn je, denn auch wenn die Hemmschwelle zum Outing für heutige Stars niedriger liegt als 1984, bedauert Somerville, dass offen homosexuelle Sänger wie Sam Smith nicht die entsprechenden Personalpronomen verwenden: "Jeder soll singen und schreiben dürfen, was er möchte, aber ich glaube nicht eine Sekunde, dass keiner dieser Künstler das Verlangen hat, von 'ihm' zu singen."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit 14 Antworten
Also gut, ich bin bei den 80ern immer noch was die Syntie Version betrifft bei nem Stein für:
Heaven 17 - Penthouse and pavement
Bei der Rock Variante:
Gun Club - Miami
Und immer noch dringend vermisst wird aus den 70ern:
Fleetwood Mac - Rumours...
Mensch Leute es kann doch nicht so schwer sein...*g*
Zu diesem Stein:
Für mich waren die Jungs eigentlich immer ne Single Band,
von mir gibt es deswegen gute 3 Punkte.
Ich werde mich in diesem Jahr an Fleetwood Mac setzen. Versprochen.
Nö, las da einen wahren Meister ran, mit dir kann das nix werden! Ausserdem ist die Tusk würdiger.
"Rumours" ist ein Monument, aber eigentlich ist schon alles zu dem Album gesagt. Jeder Rockliebhaber sollte es kennen. Ist zwar ihre wichtigste Platte, aber Meilensteine zu "Then Play On" oder "Fleetwood Mac" (75) wären auch nicht verkehrt.
Wenn wir im Bereich 80s sind, würde ich mal "Fear and Whiskey" von den Mekons vorschlagen.
NEIN, I WANT RUMOURS !!!
Ist doch nur ein Eintrag der nach kurzer Zeit wieder von den Meisten vergessen wird, aber wenn schon wie gesagt Rumours ein Monument ist...was spricht dann dagegen?? Ich bestehe auf Rumours!!!! *g*
P.S. Ist doch Alles nur subjektiv, also was solls...Kollege Kabelitz oder ein Anderer wird schon Fleetwood Mac in diesem Jahr mal unter seine Fittiche nehmen....P.S, Speedy: Ehrlich Tusk?? Die Scheibe klingt für mich immer wie der Abfalleimer von Rumours...obwohl ich war damals ja im untersten Teenie Alter....
ach was solls: Hautsache Stevie Nicks Doppel *g*
Tusk schließt die wichtigste Phase von FM ab und macht sie damit erst richtig rund, so meine Sicht. Die Rumours war sicher wichtig, mein Problem mit der Scheibe, die hatte einfach jeder und lief bis zum Ohrenkrebsgebrechen auf jeder Party. Aber sorge dich nicht @Freddie, um so vehementer ich mich gegen Rumours ausspreche um so eher kommt die Rumours!
Noch eine Geschichte zum Gedenken an die heiße Stevie, die Tusk und der frühreife Speedi, grins. Jedenfalls um 1980 sah ich Stevie in einer Aufzeichnung des Konzertes in Kaiserslautern, mit dem Song und ähnlich irre:
https://www.youtube.com/watch?time_continu…
Unsterblich verliebt! Als Tipp schau ihr nicht in die Augen bei der Textstelle "Brother", du bist für immer verloren. Auch deshalb Tusk!
määääää...
"Die Rumours war sicher wichtig, mein Problem mit der Scheibe, die hatte einfach jeder und lief bis zum Ohrenkrebsgebrechen auf jeder Party."
so wie we are the champions, we will rock you, bohemian rhapsody und der ganze andere dreck von deinen helden.
"Wenn wir im Bereich 80s sind, würde ich mal "Fear and Whiskey" von den Mekons vorschlagen."
ich kenne von denen nur "ghosts of american astronauts". ein fantastischer song! in zeiten von streamingdiensten werde ich mir mal ein paar alben von denen anhören.
Okay. Einigen wir uns einfach alle auf „Mirage“.
ich werfe mal die frage ein, warum man das schlagergetüdel der buckingham-phase den inspirierten anfängen der green-phase vorziehen sollte?
und zum ausgleich könnte man dann nen nicks-stein in form von "bella donna" bringen.
Oder ein Dreifach-Meilenstein aus „Fleetwood Mac“, „Rumours“ und „Tusk“ basteln? Hmmmm. Grübel.
ja, das wäre im grunde das salominischste.
wobei ich den meilenstein für stevie mit "bella donna" auch hochhalten würde. das ist doch im grunde ihr einziges richtig gutes album und hat den übersong "edge of 17"
Stevie ist nicht allein FM?! Einen für FM (wenn Mirage könnt ihr die Kategorie gleich einstampfen, also doch Rumours) und natürlich einen für Stevie (aber nur wegen Edge Of 17?). Lindsey Buckingham spielt da eine nicht ganz unwichtige Rolle, sowohl bei FM wie auch bei Stevie, möchte ich noch anmerken!
aber keine gute. der ist doch schuld am kreativen niedergang nach der green-ära.
Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.
Sehr schön, mein erstes selbst gekauftes Album als Meilenstein. Smalltown Boy ist trotz Radio-Overkill damals und heute im 80er Kontext immer noch ein genialer Song.
Sehr zu empfehlen ist auch die Maxi-Version, deren einziger Unterschied "nur" eine fast Acapella-Version am Anfang ist. Aber bei der Stimme hat die es in sich und fasst die 80er Konsequenz zusammen: Erst weinen, dann tanzen oder mit dem Songtitel einer anderen Band ausgedrückt: Dancing with tears in my eyes .
https://www.youtube.com/watch?v=0DDp8MnLG58
Es bleibt auch nach 36 Jahren mein absolutes Lieblingsalbum!