laut.de-Kritik

Post-Grunge, unterhaltsam wie eine solide Netflix-Serie.

Review von

Es gibt seit dem Tod von Kurt Cobain immer noch eine gewisse Sehnsucht nach den nächsten Nirvana, die den Mainstream mit einer Melange aus schroffen Gitarrensounds, aber auch mit einem Händchen für Melodien wie damals wieder aufrüttelt. Die sehr furchtbaren Puddle Of Mudd machten sich dieses diffuse Nostalgie-Gefühl zu eigen und pervertierten den einstigen Outsider-Sound aus Seattle endgültig zu radiofreundlichem Testosteron.

Musik, neu aufgewärmt für eine Generation, die den einstmals sehr aufregenden Sound nicht selber miterlebt hat. Zu schlecht, zu wenig eigene Ideen, um eine eigene Legacy zu begründen. Bully, das Ein-Frau-Projekt, von Alicia Bognanno, folgt ebenfalls dem bekannten Muster, bestehend aus verträglichem Noise-Pop und härterem, melodiöseren Alternative Rock. Gesucht wird wieder diese Schnittstelle, an der Nirvana in den Mainstream vordringen konnten, aber dabei trotzdem nie zu anbiedernd klangen.

Mit ihrem mittlerweile vierten Wurf, "Lucky For You", könnte dieses Konzept aufgehen. Die Produktion klingt fetter, die Parameter noch weiter in Richtung Pop verschoben. Immer wieder gibt es zuckersüße Rehäugigkeit wie bei "Torn" von Natalie Imbruglia, nur damit doch noch schnell Feedback-Gitarren für die Indie-Credibility ausbrechen. Dabei bringt sie diese auf ihrer Labelheimat Sub Pop, vor Jahrzehnten noch die Brutstätte für den Seattle-Sound, und ihrer Arbeit in Steven Albinis Studio durchaus genügend mit: Der Schutz vor dem Vorwurf, eine sogenannte Industry Plant wie Olivia Rodrigo zu sein.

Soundtechnisch liegen nicht so große Welten zwischen dem ehemaligen Disney-Star und Alicia Boganno. Power-Pop-Punk der älteren Schule bestimmt die Marschrichtung von Songs wie "Days More Slow" oder " A Wonderful Life", die ein bisschen frech, aber trotzdem ganz lieb klingen. Was die poppige Seite angeht, klappt das gut, alle Songs erfüllen den Kopfnicker-Faktor. Der Sound für Millennials, die frühere Zeiten romantisieren, die alten Klamotten von ihren Eltern vom Speicher holen und auf Youtube fasziniert durch Hole oder Distillers-Videos klicken. Nichts, wofür man jemand shamen müsste. Britpop wollte die 60er wieder aufleben lassen, Y2K-Indie-Rock aus Amerika den Spirit der Siebziger rüberretten.

So etwas klappt mal ganz hervorragend, wenn genügend eigene Persönlichkeit oder Ideen einfließen. "Lucky For You" scheitert in diesem Falle. Es ist gute und geschickte Flickschuster-Arbeit, die in gelehriger Streber-Manier genau studiert hat, wie das die Großen einst machten. Da werden die Riffs in "Lose You (feat. Soccer Mommy) " wie bei den Breeders angespielt und wie bei Dinosaur Jr. schräg am Hit vorbei geschrammelt, oder Billy Corgan blinzelt unschuldig aus "Siamese Dream"-Zeiten rüber. Und man muss zugeben, dass Alicia rein handwerklich alles sehr gut und richtig macht.

"Lucky For You" gerät unterhaltsam wie eine solide Netflix-Serie, präsentiert im viel zu cleanen Look, mit zu stylischen Kids und aufdringlichen 'Kennst du noch ...'-Momenten. Schade, denn unter dem Nostalgie-Trip gibt es durchaus ernste Themen wie Alkoholmissbrauch, Tod oder wie bei "All That Noise" erstmals eine wirklich glaubhafte Wut auf das absolut rückständige Abtreibungsgesetz, das Frauen in mittelalterlicher Manier die Entscheidung über den eigenen Körper vorenthält. Das ist nicht mehr Bully, die nach irgendjemandem klingt, sondern der Aufschrei angesichts eines kaputten Systems. Diese Momente finden sich leider zu selten auf einem Album, das zu viele fremde Federn trägt.

Trackliste

  1. 1. All I Do
  2. 2. Days Move Slow
  3. 3. A Wonderful Life
  4. 4. Hard To Love
  5. 5. Change Your Mind
  6. 6. How Will I Know
  7. 7. A Love Profound
  8. 8. Lose You (feat. Soccer Mommy)
  9. 9. Ms. America
  10. 10. All This Noise

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2 Kommentare

  • Vor einem Jahr

    Seit Spotify mir mal die Courtneys in den Mix gehauen hat, verbringe ich relativ viel Zeit in dem Kosmos. Soccer Mommy (Shotgun ist so ein Hit aller), Bully, Snail Mail, Momma und co. holen mich eigentlich immer ab. Da hat Avril wahrscheinlich ihre Spuren in der Erziehung hinterlassen.

    3/5 gehen aber schon klar, ist wirklich ein wenig Zahmer als bisher.

    (Bis auf All the noise, das grüßt Amyl und die Schnüffler ganz lieb)

    PS: Die erste Puddle of Mudd war bis auf den Hit schon echt ziemlich ok?

  • Vor einem Jahr

    "Post-Grunge, unterhaltsam wie eine solide Netflix-Serie." Ich kann kaum in Worte fassen, wie abschreckend das klingt.