laut.de-Kritik

Dubstep-Dämmerung am Ende der Nacht.

Review von

Es wird mir ewig in Erinnerung bleiben, wie "Untrue" das erste Mal durch unsere Redaktionsräume rotierte. Das Werk, das bald als Durchbruchsmoment für ein ganzes Genre bezeichnet werden sollte, löste in den Vorstandsreihen zunächst bloßes Schulterzucken aus: "Pah, Drum'n'Bass-Platten mit weniger Umdrehungen abspielen, kann ja jeder." Bald sollte betreffender Skeptiker übrigens selbst regelmäßig Dubstep-Clubnächte veranstalten.

Nicht dass dessen Mitinitiator kein Verständnis für Tiefstapelei hätte. Lange Zeit hält William Bevan, extrem zurückgezogener Mastermind hinter dem Burial-Alias, seine Personalie völlig im Schatten: "I'm a lowkey person and I just want to make some tunes". Während manche anfangs IDM-Paten Richard D. James hinter dem Pseudonym vermuten, befördert der Südlondoner Dubstep zwischen 2006 und 2007 erstmals ins kollektive Kulturbewusstsein.

"In der Schule habe ich Jungle und Drum'n'Bass geliebt", erklärt Bevan in einem der raren Interviews seine Wurzeln. Selbst zu jung für illegale Warehouse-Partys und Ecstasy, nimmt die Plattensammlung des großen Bruders entscheidend Einfluss auf Burials Dubstep. Jahre später transzendiert er jene Heydays der britischen Ravekultur - aus der Schlafzimmerperspektive heraus und durch eine dicke Nostalgia-Patina hindurch. Schon die Tracktitel legen davon unmittelbar Zeugnis ab ("Raver", "UK", "Endorphin").

Dieser Nostalgie kommt dabei ganz konkrete Bedeutung zu. "Untrue" zielt nämlich nicht lediglich auf die Übertragung spezifischer 90er-Tanzmusik in eine Gegenwart, die neben Drum'n'Bass auch die Genres Dub, Garage und 2-Step berücksichtigt. Im Unterschied zu anderen Dubstep-Pionieren wie Skream transplantiert Burial Sentimentalität in ein zeitloseres Post-Club-Szenario. Anstelle aktualisierter Sounds, bei der der Spätgeborene schlussendlich außen bleibt, vollzieht das Album in memoriam Rave-Ekstase eine Art nächtliche Gefühlsinventur.

Artikuliert wird hierbei ein fundamentaler Mangel an Heimat und Zuneigung. Im hypnagogischen Dämmerzustand der Morgenstunden, der sich auch im schwarzgrauen Artwork widerspiegelt, ist der Raum des Geschehens nicht mehr der drogengetränkte Dancefloor, sondern das Nicht-Geschehen danach, oder: das einsame Runterkommen "In McDonalds". Diese isolationistischen Gefühle beschreibt der Producer anhand elliptischer Gesangssamples.

So setzt die Single "Archangel" den Melancholiebegriff geradezu perfekt um, wenn es dort schmachtend heißt: "Holding you, couldn't be alone, couldn't be alone, couldn't be alone". Lange vor der subkulturellen Appropriation von R'n'B benutzt Burial Loops von z.B. Christina Aguilera ("Ghost Hardware"), Usher ("Near Dark") und Beyoncé ("Untrue"). Angesichts des eigentlich experimentellen Soundgerüsts voll markerschütternder Subbässe und synkopierter Shufflebeats verblüfft der hiermit einhergehende Popfaktor ungemein.

Neben R'n'B bezieht Bevan sein Polstermaterial auch aus Filmen, Videospielen und Plattenspielerknistern. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal liegt derweil in der Verfremdung dieser Auszüge. Burial benutzt Samples nicht als reine Zitate, sondern pitcht Timbres hoch bzw. runter, bis sie nicht mehr als männlich bzw. weiblich erkennbar sind. Wo DJ Screws Chopped & Screwed seinen maskulinen Raps noch mehr Bassvolumen verpasste, entstehen jetzt geschlechtslose Lamentos, die sich, aus ihrem Kontext gerissen, zu entrückten Texturen wandeln.

Auch abseits der Vocals haftet Burials Dubstep-Lingua trotz Science Fiction-Atmosphäre viel Organisches an. Denn der Producer verzichtet völlig auf Sequenzer-Software und damit auf Quantifizierung. Weil er folglich jeden Beat manuell im Audioeditor anordnen muss, entstehen diffuse Taktverschiebungen, die dem Klangbild Unschärfe, "menschliche Wärme" spenden. Nichts klingt hier mechanisch-sauber, überall strukturieren zusätzliche Fuzz- und Phaser-Effekte die Oberfläche. Auch daraus resultiert eine Zugänglichkeit, die "Untrue" vom Untergrund-Dubstep seiner Zeit unterscheidet.

Dieses Spiel mit Distanz und Nähe - Nostalgia, Geschlechtsneutralität, "humanoide" Produktion - prägt die kathartische Albumdramaturgie. Defätismus macht peu à peu Platz für hoffnungsvollere Zwischentöne. Über der vernebelten Dunkelheit des ersten Albumteils graut der Morgen von "Shell Of Light", bis das geradlinige "Homeless" sowie das schließende "Raver" die geklärte Luft des Neuanfangs atmen. Dystopische Klaustrophobie weicht vorsichtiger Harmonie.

Damit trifft William Bevan nicht allein den Nerv der Clubszene. Sein Dubstep enthüllt Isolation als Pendant zum Gemeinschaftsgefühl jeglicher Popkulturkreise. Statt seligem After Hour-Fade Out nach durchfeierter Nacht warten bei ihm Schlaflosigkeit und Sentimentalität bis zum Identitätsverlust. Gefühlszustände, die auch außerhalb des Ravekontexts nachvollziehbar und genau dadurch bis heute ideelle Grundlage von Post-Dubstep sind.

Burials Entwurf rückt also Introspektion und Sehnsucht nachdrücklich in den Fokus von Funktionsmusik. Sein Dubstep reiht unmittelbares Zeitzeugentum hinter den mittelbaren Gefühlseindruck ein. "Möglicherweise war das Gefühl in den UK-Clubs damals nicht derart artifiziell, gezielt oder vom Internet gesteuert", spekuliert er. "Es war mehr wie ein Gerücht, Underground-Folklore. Raver reizten ihr Leben bis zum Maximum aus. Sie waren einfach da und die Tunes bedeuteten alles. Diese Ära ist vorbei. Heute gibt es weniger Gefahr, weniger Aufopferung, weniger Abenteuer auf der Suche nach Neuem."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Untitled
  2. 2. Archangel
  3. 3. Near Dark
  4. 4. Ghost Hardware
  5. 5. Endorphin
  6. 6. Etched Headplate
  7. 7. In McDonalds
  8. 8. Untrue
  9. 9. Shell Of Light
  10. 10. Dog Shelter
  11. 11. Homeless
  12. 12. UK
  13. 13. Raver

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