laut.de-Kritik

Tryhard-Hyperpop und Miami-Girl-Melancholie.

Review von

Seit ihrem Solo-Weggang von Fifth Harmony ringt Camila Cabello darum, ihre Persönlichkeit zu etablieren. Ihr Debüt "Camila" hat gezeigt, dass sie sehr kompetent Pop-Zeitgeist bedienen kann, sie kann Hooks, sie kann verschiedene Konzepte bespielen. Latin, Ballade, sogar ein durchschnittliches B-Tier-Celebrity-Couple konnte sie.

Aber sie war nicht die Sorte Musikerin, über die Pop-Nerds schwitzige Hände bekommen. Sie würde nie ein "du musst jetzt alles stehen und liegen lassen"-Artist sein. Und alle Kompetenz in Ehren, aber man merkte doch, wie sie zu den Lordes, den Charlis, den Troyes geguckt hat und sich dachte: Warum kann ich nicht solche Alben machen? Die Leadsingle für "C,XOXO" war also konzipiert, um alle zu schockieren. Und für einen Moment hat es sogar funktioniert, vielleicht nur leider falschherum. In einem extrem transparenten Versuch, sich musikalisch zu den coolen Kids zu stellen, war Camila mit "I Luv It" immerhin ein paar Tage das Gespött auf dem Pausenhof.

Ironischerweise macht genau dieser gescheiterte Versuch, auch cool zu sein, sie nun aber nahbarer, als sie es je war. Als Album ist "C,XOXO" definiert von jemandem, der sich weigert, seine künstlerischen Grenzen hinzunehmen. Camila will aus ihrer Box heraus. Und ja, sie fällt irgendwie damit auf die Fresse. Aber gerade dadurch, dass dieses Album regelmäßig einen Halbschritt davon entfernt ist, eine komplette Katastrophe zu sein, gerät es authentisch und geradezu liebenswert.

Schon "I Luv It" ist ein superkomischer Song. Viele waren schnell bei der Hand, den Titel und die Kadenz im Refrain und den Albumtitel "C,XOXO" mit Charli XCX und insbesondere "I Got It" von "Pop 2" (immer noch ihr bestes Album, don't at me) zu vergleichen. Und es stimmt. In Sachen Vocal-Editing und gekauftem Hyperpop-Flavour wird hier schamlos bei Charli XCX gebitet. Aber das sollte uns nicht davon ablenken, wie viel andere komische Dinge hier passieren. Da ist nämlich noch diese extrem klobig in den Song interpolierte Hook von einem alten Gucci Mane-Song, komplett garniert mit ein paar wohlplatzierten "Burr!"-Adlibs. Und natürlich am Ende noch Playboi Carti, der seine ikonische Baby-Voice nun endgültig für etwas rotiert hat, das man nur als "Typ, der mit gesenktem Kopf durch die U8 stolpert, Selbstgespräche führt und hoffentlich nicht neben dir zum Stehen kommt"-Voice bezeichnen könnte.

Lowkey ist der Song ein Meisterwerk. Er ist so ein Massaker. Zwischen all den bizarren Entscheidungen hat er ein wirklich gutes Händchen für Atmosphäre. Diese Sirenen-Synths, auf denen alles fußt, wabern so durchdringend unter dem Track. Das Instrumental klingt, als würde man auf ein Gewitter warten - und entsprechend hat der ganze Track spürbar Dampf auf dem Kessel. Er wirkt urgent. Als wolle Camila wirklich, wirklich beweisen, dass auch sie dieser Pop-Autor sein kann. Und in einer Welt, in der alles und jeder dazu übergeht, nur noch cool und abgebrüht zu wirken, wirkt ihr krampfaderiges Tryharding irgendwie erfrischend. Klar, der Sound ist mehr oder weniger geklaut, aber immerhin begegnet sie ihm nicht mit Zynismus, sondern in einem adäquaten emotionalen Extremzustand.

Und Jesus, wird auf diesem Album getryhardet. Eine große Säule von "C,XOXO" ist wider Erwarten nicht Hyperpop, sondern Anbiederung an die sehr spezifische Schnittmenge aus Springbreak und Hip Hop. Wir bekommen also ein paar inspirierte Bits Florida-Hip Hop präsentiert: Die City Girls kommen vorbei, vielleicht ein letztes Mal als Duo und Yung Miamis Twerk-Hymne wird bei der Hälfte des Refrains vom Trap-Brecher runtergenommen und stattdessen über ein melancholisches Klavier gelayert, bevor Camila schockierend wunderschön dem Springbreak-Sonnenaufgang entgegensingt. "Dade County Dreaming" ist wieder so ein abgefahrener Song, aber er klingt inspiriert. Caste den Twerkulator als schwarzen Schwan im Schwanensee.

Direkt darauf darf Florida-Newcomer BLP Kosher ein kleines Interlude sprechen. Aber nichts setzt diese Idee des Springbreak-Heartbreak-Albums besser um, als der wirklich umwerfend gute Track mit dem ... Pitbull-Sample? Was?! Ja, sie nutzt den "meet me at the hotel"-"döp-döp-döp"-Part in "B.O.A.T." als eine melancholische, kleine Synth-Hook. Atmosphärisch großartig eingeleitet mit dem "305tillidie"-Skit ist das ganze Ding gleichermaßen atmosphärisch wie catchy. Definitiv der beste Track hier, direkt vergleichbar mit einem ebenfalls gelungenen "Chanel No. 5" mit seinen dissonanten, stimmungsvollen Pianos und der nostalgischen Hook.

"Pretty When I Cry" und das stärkere "June Gloom" komplettieren dieses Quasi-Konzept, das man als Hyperpop-inspirierte "Miami Girl Melancholia" bezeichnen könnte. Und es ist ein gutes! Besonders deswegen, weil Camila keine Lana Del Rey ist und immer ein bisschen verunsichert und überdreht performt. Sie klingt, als wüsste sie, dass sie eines der anderen Models in "The Neon Demon" ist, das zwangsweise von der Protagonistin ausgestochen wird. Und doch wirft sie noch einmal alles, was sie kann, in den Ring.

Leider gibt es trotz alledem ein paar Duds auf dem Album. Lil Nas X macht auf "He Knows" ein weiteres Mal den Eindruck, als wisse er gerade nicht so recht, wo musikalisch hin mit sich selbst. Der Drake-Track "Hot Uptown" geht schon klar, wird aber ein bisschen arg vom Feature dominiert und fühlt sich am meisten wie etwas an, das sie auch davor so gemacht hätte. Gerade die beiden Kollabos stärken auch am meisten das Gefühl, dass sie sich im Laufe des Tapes gerne hinter anderem versteckt: Hinter Gästen, hinter Sounds.

Irgendwie ist das die Krux des Albums: Camila will als richtige Pop-Autorin ernstgenommen werden, aber man spürt ihr die ganze Zeit an, dass sie bis zum Bersten angespannt darüber ist. Sie will Signifier für guten Geschmack vorschicken, coole Kollaborateur*innen, coole Samples. Und das klappt auch manchmal. Aber auf eine absurde Art liegt der Charme dieses Albums darin, wie unsouverän es ist. Hätte sie wirklich eine komplette Camila XCX-Iteration smooth und kompetent abgeliefert, dann wäre dieses Album so viel weniger wert. Aber irgendwie ist es die Summe der guten und der schlechten Entscheidungen, die Camila auf "C,XOXO" das erste Mal vollumfänglich als Person hervortreten lassen. Und eigentlich ist dieser Eindruck ziemlich cool.

Trackliste

  1. 1. I Luv It (feat. Playboi Carti)
  2. 2. Chanel No.5
  3. 3. Pink Xoxo
  4. 4. He Knows (feat. Lil Nas X)
  5. 5. Twentysomethings
  6. 6. Dade County Dreaming (feat. JT & Yung Miami)
  7. 7. Koshi Xoxo (feat. BLP Kosher)
  8. 8. Hot Uptown (feat. Drake)
  9. 9. Uuugly
  10. 10. Dream-Girls
  11. 11. 305tilidie
  12. 12. B.O.A.T.
  13. 13. Pretty When I Cry
  14. 14. June Gloom

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3 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 4 Monaten

    4 ist definitiv einer zu viel. Album macht trotzdem ziemlich Bock und läuft gut durch, gerade mit der gefühlt unsagbar kurzen Gesamtlaufzeit mit irgendwas um die 25 Minuten (?). Bis auf das City Girls feature (bester song) sind alle anderen collabs leider ziemlicher Schlonz. 'I luv it' hätte als solosong besser funktioniert, das Playboi Carti feature ist so out of place und richtiger Müll. 'Boat' das andere Highlight.

    • Vor 4 Monaten

      Finde die Features eigentlich ganz ok, Hot Uptown klingt halt wie ein Song aus „Honestly, Nevermind“ und von daher etwas deplatziert, aber ohne Carti könnte ich mir I LUV IT nicht mehrfach anhören und HE KNOWS ist für mich auch einer der stärkeren Songs. Nur schade, dass das BLP Kosher Feature im Vorfeld nach deutlich mehr aussah, als es dann letztendlich geworden ist.

    • Vor 4 Monaten

      When Carti said "huhduduhhududuhhuhduduhhududuh" I felt that.

  • Vor 4 Monaten

    Dieser Kommentar wurde vor 3 Monaten durch den Autor entfernt.

  • Vor 4 Monaten

    War klar, dass die in den USA noch diese Zungenmaler mit dem krebserregenden Farbstoff haben.

    • Vor 4 Monaten

      In Deutschland gibt es die auch (wobei ich "Zungenmaler" erstmalig lese), der Farbstoff ist Indigotin (E132) und über karzinogene Effekte habe ich bis jetzt nichts gelesen.