laut.de-Kritik
Abschied und Aufbruch zugleich.
Review von Manuel Berger"Ascension Codes" ohne zwei Trauerfälle des Jahres 2020 zu betrachten, ist fast unmöglich. Bereits im Januar verstarb Sean Reinert. Elf Monate später nahm sich Sean Malone das Leben. Beide prägten durch ihr virtuoses Spiel an Schlagzeug und Bass nicht nur Cynic nachhaltig. Ihre Beiträge seit den frühen 90ern beeinflussten die Entwicklung des gesamten Progressive Metal-Genres. Ein neues Album ohne die beiden konnten sich deshalb viele kaum vorstellen, auch wenn Reinert und die Band offiziell bereits seit 2015 getrennte Wege gingen. Das letzte verbliebene Mitglied der Kernbesetzung, Paul Masvidal, vollendete es nun dennoch. DAbei wird er dem Vermächtnis Cynics gerecht und denkt die Essenz der Band zukunftsträchtig weiter.
Erste Ideen für "Ascension Codes" sammelte Masvidal bereits kurz nach der Veröffentlichung des sieben Jahre zurückliegenden "Kindly Bent To Free Us". Sowohl Reinert als auch Malone hatten vor ihrem Tod bereits Auszüge gehört. Von Malone selbst stammte laut Masvidal die Idee, den u.a. mit Art Garfunkel auftretenden Pianist Dave Mackay zu involvieren, der nun seine Rolle im im tiefen Klangspektrum übernimmt.
Ein cleverer Schachzug, denn so umgehen Cynic das Problem, Malones eigenwilliges Fretless Bass-Spiel ersetzen zu müssen. Statt auf einer Bassgitarre spielt Mackay seine Tracks größtenteils auf Moog-Synthesizern und bewahrt damit einerseits das fließende Element seines Vorgängers, während zwangsläufig neue Texturen in die Musik kommen. "Aurora" lebt wesentlich von seinen auf und ab wogenden elektronischen Bassläufen. Schon im Opener "The Winged Ones" begeistert Mackay mit einem Solo, das ebenso gut auf einem Steven Wilson-Album auftauchen könnte.
An Reinerts Nachfolger am Drumkit, Matt Lynch, konnten sich Cynic-Anhänger bereits seit 2017 gewöhnen. Dass der die großen Fußstapfen würdig ausfüllt, ohne Reinert bloß zu kopieren, bestätigen Lorbeeren aus Fachkreisen. Seine vertrackten Patterns, aber wo nötig auch der Mut zur Lücke, erinnern immer wieder an Leprous. Gerade an "Mythical Serpents" hätte deren Schlagwerker Baard Kolstad wohl seine helle Freude.
Die Parallelen zu den deutlich jüngeren norwegischen Proggern verdeutlichen, wie gut Cynic gealtert sind. Welche andere 1987 gegründete Band kann schon von sich behaupten, 2021 noch genauso aktuell, ja gar zukunftsweisend zu klingen wie auf ihrem ersten Album? Zusammen mit dem Grammy-prämierten Produzent Warren Riker, der neben Rock- und Metalreferenzen in seinem Portfolio auch Arbeiten mit Destiny's Child, Michael Jackson und Santana führt, hüllte Masvidal "Ascension Codes" in ein futuristisches Soundgewand, dank dem man ständig überlegt, ob man überhaupt noch von einem Metalalbum sprechen kann oder es lieber als Ambient-Werk bezeichnen sollte.
Den Eindruck verstärken die namensgebenden Codes, die Masvidal in Form von neun kurzen Interludes manifestiert. Sie erzeugen einen konstanten sonischen Schwebezustand, aus dem die eingebettet Songs als komplexe, anomalische Auswüchse emporragen. Dazu passt, dass bestimmte Motive an mehreren Stellen des Albums auftauchen. Das eröffnende Gitarrenriff von "The Winged Ones" zum Beispiel greift Masvidal 25 Minuten später im Finale des "DNA Activation Template" wieder auf.
Obwohl "Ascension Codes" bis in die kleinste Faser durchdacht und von verwinkelten Strukturen geprägt ist, behält es ein offenes, träumerisches Grundgefühl. Technischer und harmonischer Anspruch schließen bei Cynic nicht aus, ins Sphärische abzugleiten. In welcher Form sie das auf ihrem vierten Album zelebrieren, ist im Progressive Metal-Bereich tatsächlich einzigartig. Ähnliche Vibes transportiert Masvidal über seine spirituell angehauchten Texte. Der Gitarrist und Sänger mischt Biophysik mit Extraterrestrik, scheint den Übergang aus der materiellen in eine transzendente Welt zu beschreiben und übersetzt das letztlich in Musik.
Cynic formulieren einen Abschiedsbrief, der sich anfühlt wie ein Aufbruch und klingt, wie man sich eine Jenseitserfahrung vorstellt. Für die ungewisse Situation der Band vielleicht das bestmögliche Ergebnis. "Ascension Codes" funktioniert als Requiem genauso gut wie als Pfad in die Zukunft.
3 Kommentare mit einer Antwort
Starkes Album und starkes Fazit: "Cynic formulieren einen Abschiedsbrief, der sich anfühlt wie ein Aufbruch und klingt, wie man sich eine Jenseitserfahrung vorstellt. Für die ungewisse Situation der Band vielleicht das bestmögliche Ergebnis. "Ascension Codes" funktioniert als Requiem genauso gut wie als Pfad in die Zukunft."
Kann ich so unterzeichen. 5/5
Warte mal... Malone war Suizid? Das trifft gerade ziemlich krass.
In der Tat.
Klingt bockstark bislang.