laut.de-Kritik

Deutschraps ambivalentester Disput mit sich und der Welt.

Review von

Dissy präsentiert sich bereits seit Jahren als spannender Untergrund-Künstler. Zwischen eigener Kunst und Videoregie, von ersten Tapes bis zur Zusammenarbeit mit Artists wie Clueso durchlief der geborene Berliner in den letzten Jahren diverse Stadien und veröffentlichte zuletzt im Januar 2020 sein "Bugtape Side A". Dass das mehr werden würde als eine zufällige Aneinanderreihung von verschiedenen Singles, machte bereits die Tracklist des vergangenen Releases deutlich: Vom ersten bis zum letzten Track ergaben die Songtitel schon hier zwei vollständige Sätze, und auch musikalisch ging ein Stück in das Intro des nächsten nahtlos über. Der Abschluss des A-Seiten-Tapes versprach damals bereits mehr. Nach dem Abklingen des finalen Songs setzte ein neuer Beat ein, erst leiser, zunehmend lauter, dann Stille – ein Vorbote auf das, was uns erwarten sollte. Nun vervollständigt Dissy das Gesamtwerk mit dem "Bugtape Side B" und setzt nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich dort an, wo er aufgehört hat.

Genau wie das vorherige Release, erzählt auch "Bugtape Side B" eine Geschichte: "Ich bin ein Freak, aber ich habe keine Angst, auch wenn bis September wieder alles schief geht. Murphys Law ist mein Erfolgsrezept, also lauf!" Das Prinzip, dass die Songtitel aneinandergereiht vollständige Sätze ergeben, verwirklicht Dissy auch dieses Mal auf musikalischer Ebene. Dank entsprechender Skits und Intros gibt es erneut statt einzelner Singles ein 20-minütiges Werk, das eher den Eindruck einer langen Erzählung erweckt. Sich kreativ auszuleben, scheint erneut eine von Dissys Prioritäten gewesen zu sein: Auch abseits der Übergänge zwischen einzelnen Songs bricht er aktiv mit Songwriting-Strukturen und -regeln. Dissy verzichtet überwiegend darauf, wiederkehrende Hooks identisch zu instrumentieren oder sich in einem dreiminütigen Song auf die immer wiederkehrenden vier Töne zu beschränken.

Die beachtenswerte Produktion des Tapes ist nicht nur Dissy selbst zu verdanken, sondern auch der Zusammenarbeit mit Torn Palk, Kilian Lampthe und Kidney Paradise, letzterer vor allen Dingen bekannt für seine Zusammenarbeiten mit Lance Butters. In dieser Kombination wurde der düstere und eindringliche Sound der A-Seite perfekt inszeniert. Die Mischung aus verschiedenen Stimmeffekten, bedrohlichen Synthies und Störgeräuschen im Kontrast zu melodischen Akustikgitarren und harmonischen Gesängen erweckt beinahe schon das Gefühl einer abstrusen Parallelwelt, in der zu jedem Zeitpunkt Willkürliches geschehen könnte. Erst in der Auseinandersetzung mit den Lyrics fällt auf, dass der dystopische Sound unserer realen Welt stellenweise mehr entspricht, als man es zunächst wahrhaben möchte.

Bereits auf dem ersten Track "Freak" macht Dissy deutlich, welches Gefühl auch dieses Release dominieren soll: "Halt' die Fassade schon so lange gut, wenn ich nichts sage, mach' ich nichts kaputt." Ambivalente Emotionen, Verzweiflung und Gebrochenheit im Gegenspiel zu Ruhe und Akzeptanz: Diesen Gegensatz verdeutlicht direkt zu Beginn das Feature mit der Künstlerin und Produzentin Mine. Entspannte Harmonien und gelebte Hektik stoßen im Sound so aufdringlich zusammen, dass schon innerhalb der ersten Minuten von "Bugtape Side B" klar wird, welchen Maßstab Dissy sich für dieses Projekt gesetzt hat. Bereits auf der ersten Singleauskopplung "September" stehen ruhige Background-Vocals im Kontrast zu Schrei-Parts, die die thematisierte Panik eindringlich vermitteln. Was auf "September" noch das zwiegespaltene Gefühl gegenüber der Welt an sich widerspiegelt, findet bei Dissy jedoch nicht nur gegenüber der Außenwelt, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich statt: "Ich mach' nur mein Scheitern zu 'ner Kunst", wie Dissy es selbst auf "Angst," formuliert.

Neben Mine lässt sich auch Luvre47, inzwischen eine Bekanntheit im Berliner Untergrund, auf dem Tape wiederfinden. Im Song "Lauf!" thematisieren die beiden Männer die Flucht aus einem ungesunden Verhältnis, einer toxischen Beziehung. Sicher zu sagen, welche Assoziation Dissy in seinen Zuhörer*innen genau wecken will, ist meist eher schwierig. Bekanntermaßen gibt er seinen Songs einen doppelten Boden und lässt Spielraum für Interpretation und Identifikation, unabhängig von seiner eigenen Motivation, die den Lyrics zugrunde liegt. Als Abschluss für das "Bugtape Side B" lässt der Featurepart von Luvre dieses Konzept im Vergleich jedoch schleifen und nimmt dem Song jegliche Offenheit. Zwar textet auch Dissy selbst auf "Lauf!" ein bisschen plakativer, als es zu erwarten war, doch spätestens mit den eindeutigen Formulierungen von Luvre47 verliert das Finale des Tapes an Spielraum und somit den Charme, der das Tape bis zum Ende ausmachte.

Ein einzelner Song liefert jedoch noch lange nicht Anlass genug, um die vorherige Begeisterung zu mindern. Doch die bringt im Umkehrschluss auch einen Nachteil mit sich: Bei einem Tape, das so überzeugt, ist es wiederum etwas schade, dass bis auf "Murphys Law" alle Singles schon von Release für die Streamingdienste ausgekoppelt wurden. Der erste Blick auf die nun vollständige Tracklist mag also zunächst enttäuschen. Doch spätestens, wenn selbst einfache Instrumental-Skits wie "Wieder Alles Schief Geht." allein mit der Industrial-inspirierten Instrumentierung diverse Bilder im Kopf erzeugten, hat Dissy sein Ziel erreicht. Natürlich lassen sich sich mit Skits und ausgiebigen Instrumental-Parts auf experimentellen Songs nicht die Playlisten des Landes erobern, aber genau deshalb dient das gesamte "Bugtape" als perfektes Beispiel dafür, warum das Konzept Album auch 2021 noch seine Daseinsberechtigung hat und nicht in Vergessenheit geraten sollte. Obwohl die Singles einzeln funktionieren, lohnt es sich, "Bugtape Side A" und "Bugtape Side B" einmal von vorne bis hinten zu hören und so inhaltliche Zusammenhänge zu erschließen.

Dissy liefert mit "Bugtape Side B" erneut ein vielseitiges Release, in dem sich jede*r wohl zumindest im Ansatz wiederfinden kann. Allerspätestens wo auf unsauberes, aggressives und brüchiges Geschrei in "Murphys Law" eine ruhige Akustikgitarre und das Knistern eines Feuers folgen, lässt sich kaum von einem einheitlichen Genre oder einer allseits bekannten Produktionsweise sprechen. Am Ende des Tages kennen die meisten von uns Gefühle wie andersartig zu sein (oder es manchmal ein wenig mehr sein zu wollen), das Gefühl von Paranoia, wenn man anfängt, die Welt und das eigene Leben zu überdenken, vielleicht auch das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit im Anblick einer brennenden Welt. Doch auch, wenn das "Bugtape Side B" nach unheimlicher Dystopie klingt, in der laut Murphy-Gesetz alles schief gehen wird, das schief gehen kann, lohnt sich ein Ausflug in diese Welt, um den Spielraum zu erkunden, den Dissy bewusst gibt.

Trackliste

  1. 1. Ich Bin Ein
  2. 2. Freak. feat. Mine
  3. 3. Aber Ich Habe Keine
  4. 4. Angst,
  5. 5. Auch Wenn Bis
  6. 6. September
  7. 7. Wieder Alles Schief Geht.
  8. 8. Murphys Law
  9. 9. Ist Mein Erfolgsrezept, Also
  10. 10. Lauf! feat. Luvre47

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