laut.de-Kritik
Pop, Rock und Klassik verschmelzen im futuristischen Spektakel.
Review von Ulf Kubanke"Ältere Musik ist im Grunde dieselbe wie neuere Musik. Nur die Art sie rüber zu bringen wechselt." Jeff Lynnes Credo unterstreicht die Zeitlosigkeit gelungenen Songwritings. Mit seinem Electric Light Orchestra folgt er dieser Philosophie ein Leben lang. Die Verpackung mag wechseln. Der Kern der Lieder behält seine faszinierende Gültigkeit bis in alle Ewigkeit, falls er gut genug ist.
So gut wie jede Facette von ELOs Schaffen trägt dem eigenen Qualitätsanspruch Rechnung. "Time" verbindet 1981 ELOs orchestrale Seite mit damals hochmodernem Synthiepop. "Discovery" vermengt Ende der 70er typische Tracks mit Dicso-Sound. Es verankerte den Überhit "Don't Bring Me Down" im kollektiven Musikgedächtnis und reüssiert bis heute als ELOs meistverkaufte LP.
Dennoch herrscht unter Fans wie Medien gleichermaßen Übereinstimmung in ihrer Verehrung der Trilogie "Face The Music" (1975) / "A New World Record" (1976) / "Out Of The Blue" (1977). Obwohl Lynnes private Situation in dieser Phase alles andere als harmonisch war und seine erste Ehe unwiderruflich zu Bruch ging, bringt er hier alles auf den Punkt, was den Geist ELOs ausmacht. Der Mittelteil "A New World Record" bildet das Filet unter diesen Herzstücken.
Für selbiges reist der Perfektionist im Sommer 1976 nach Deutschland. Seine Wahl fällt nicht umsonst auf das in jener Zeit hypermoderne und höchst angesagte Musicland-Studio in München. Bereits Elton John, die Rolling Stones, Led Zeppelin oder Queen zeigten sich von der Location begeistert. Genau der richtige Ort für Lynnes Vision, Rock, Pop und Klassik als futuristisches Spektakel zu verschmelzen.
Die Magie dieses speziellen Augenblicks trägt viel zum Gelingen der neun Lieder bei. Einerseits genießt das Elecric Light Orchestra bereits einen gewissen Rang im Showbiz. Andererseits verfügt der Multiinstrumentalist noch nicht entfernt über seinen späteren Stellenwert im Pop-Olymp und als Produzentenguru samt Stern auf dem Walk Of Fame. Mit diesen Songs geht alles so richtig durch die Decke. "Die Lieder begannen zu fließen. Sie kamen berauschend schnell über mich. Auf einmal gab es all diese Hits. Das war wirklich erstaunlich. Seit drei oder vier Jahren lief es 'okay'. Und plötzlich wurde ELO zur großen Nummer. Es war eine seltsame, aber großartige Sache."
Seltsam und großartig klingt die gesamte Platte tatsächlich. Ersteres, weil Lynne anscheinend denselben genetischen Code für luftige Popmelodien in sich trägt wie die Beatles. Letzteres, weil sein Songwriting keinerlei qualitative Abstriche verzeichnet. Würde man Lynne als sechsten Beatle bezeichnen, es wäre keine Übertreibung.
Besonders "Shangri-La", "Telephone Line" sowie das fidele "Livin' Thing" zeigen seine Qualitäten überdeutlich. Der letztgenannte, weltweit einschlagende Single-Hit entwickelt sich sogar zu einer der Erkennungsmelodien der 70er.
Ganz und gar zwanglos verbindet Lynne in "Tightrope" fröhlichen "A-Hey-Hey"-Bubblegum-Pop mit stürmischen Streichern, die klingen als seien sie gerade einer Sinfonie entflohen. Die intensivste Emotion schürt der Tausendsassa mit "Mission (A World Record)". Auf gerade einmal viereinhalb Minuten schillert das Lied gleichsam als elegische Ballade, orchestrale Mini-Suite und Groove-Nummer. Dabei wirkt es nicht im Geringsten zerfahren, unentschlossen oder gar widersprüchlich.
Wer so viele grundverschiedene Ingredenzien zum stimmigen Cocktail verrührt, darf sich getrost als Meister seines Fachs bezeichnen. Jeff Lynne blieb jedoch nach diesem und allen weiteren Erfolgen stets bescheiden, sogar schüchtern bis zur Schmerzgrenze. Selbstironisch merkt er gern an, dass die knallbunte, lichtflutende Bühnenshow auch deshalb so opulent ausfalle, um seinen offenkundigen Mangel an Rockstarhaftigkeit zu kompensieren: "Ich bin wirklich überhaupt niemand besonderes."
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
5 Kommentare mit einer Antwort
Endlich einen Meilenstein für ELO. Ich hätte zwar die nachfolgende Out of the Blue genommen; Aber die wäre ohne dieses Album nicht machbar gewesen eine gute Weiterentwicklung von Face the Music. Toller Text von Herrn Kubanke. Danke
Hab die erst mit diesen Enola Gay-Hanseln verwechselt
Verdient, auf alle Fälle. Für mich persönlich gab es 1974-77 eine Tetralogie, denn ich zähle auch das ewig unterschätzte "Eldorado" zu den großen Alben. Mag sein, dass andere Alben mehr Einzelhits hatten. Eldorado ist mehr als "Can't Get It Out of My Head", es ist ein Werk aus einem Guss.
Für mich ist Eldorado in der Summe auch das beste Album! Vor 20 jahren hätte ich noch OOTB genannt, aber das sit als doppel-LP einfach die paar Stücke zu lang! Aber ANWR verdient den meilenstein natürlich auch. Freut mich total für Mr. Lynne, das er auf seine alten tage noch mal neu entdeckt wird.
Vielen Dank für diesen Meilenstein. Ich ahnte es schon länger das da noch eine Band fehlt. Auf der Liste der überschätzten und aus irgendeinen unerfindlichen Grund erfolgreichen Bands.
Super Album!