laut.de-Kritik
Liebe ist nicht nur Geilheit.
Review von Rinko HeidrichIhren Wurzeln als Künstler und Teil der New Yorker Kunst-Szene sind Fischerspooner stets treu geblieben. Die Konzerte der letzten Überlebenden des Electroclash, der Anfang der Nuller Jahre seinen große Zeit hatte und für den sie mit "Emerge" die große Hymne für den kurzlebigen Hype entwarfen, gerieten damals zu Aufsehen erregenden Happenings.
Auch "SIR" präsentierten sie erst als Kunstinstallation: Eine originalgetreue Nachbildung der Wohnung von Casey Sponner stellten Fischerspooner unter anderem auf der Mumok in Wien aus. Sie sollte die Verwischung zwischen Privatem und dem öffentlichen Leben darstellen. Ein Bildband kam auch bereits heraus. Nun folgt mit dem Album der hörbare Teil des Gesamtkunstwerks.
Sexualität - genauer: queere Sexualität - lieferte den Art-Electro-Poppern schon immer das Kernthema, das sie seit Jahren in allen seinen Facetten ausleuchten und betrachten. Was auf dem Debüt "#1" aber noch als Sex-positver Dance-Punk verspielt rüberkam, ist nun eine Standortbestimmung in einer Welt, in der sich die LGBT-Gemeinde wieder mit konservativen Rückfällen in der Gesellschaft konfrontiert sieht. Zusammen mit seinem ersten Boyfriend Michael Stipe (Ja, genau der!) und dem stets im Hintergrund agierenden Partner Warren Fischer ist "SIR" also auch als Kampfansage, gleichzeitig aber als Tribute an die schwule Community zu verstehen.
Das fiebrige "Top Brazil" und das kontroverse NSFW-Video fallen in ihrer Beschreibung von Homo-Erotik so eindeutig aus, dass man als rechtschaffene Hete nur noch die endgültige Ankunft des Anti-Christen vermuten und sich schützend die Bibel vors Gesicht halten kann.
Gerade am Anfang fährt "SIR" schon eine verdammt große Versuchung auf. Die zupackenden Electro-Beats beschwören endlich wieder die Härte der Anfangszeit und zeigen dem belanglosen Pop des letzten Albums die Muskeln. Club-Banger wie "Top Brazil" oder "Strut" setzen noch einmal fette Neon-Ausrufezeichen.
Mit Boots (unter anderem für seine Arbeit mit Beyonce bekannt) kommt jugendliche Verstärkung und ein aufregender Beatkünstler mit an Bord. Er bringt mit "Everything Is Just Alright" eine spannende Frischzellenkur ein, kreiert aber dann mit "I Need Love" einen unschönen Autotune-Trap-Versuch. Eine weitere Zusammenarbeit dürfte den älteren Herrschaften Fischerspooner, immerhin auch schon End-Vierziger, trotzdem gut tun.
"Get It On" geht dann richtig weit zurück, zu dem Moment, als sich Stipe und Spooner irgendwann in den 80ern zum ersten Mal begegneten. Der Lover ist mittlerweile zur Vaterfigur geworden, deren Seelentröster-Qualitäten nun auch Casey für sich in Anspruch nimmt. Der Trennungsschmerz-Song "Oh Rio" findet zusammen mit der queeren Sängerin Holly Miranda seinen dramatischen, düsteren Abschluss. Liebe ist nicht nur Geilheit, sondern eben auch tiefer Schmerz und große Enttäuschung.
Ein wenig mehr von dieser finalen Großartigkeit, und "SIR" wäre noch einmal der erhoffte Paukenschlag geworden. Dafür geht dem Album nach einem furiosen Start am Ende aber einfach zu stark die Puste aus. Trotzdem: eine wichtige Platte. Für die Kunst, aber vor allem für alle Menschen, die wegen ihres Andersseins aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden.
1 Kommentar
Gute Platte.