laut.de-Kritik

Im Synthiepop-Deckmantel steppt der Punk.

Review von

"Frankie Goes To Hollywood kommen" Die großformatigen Anzeigen in der Musikpresse, mit denen ZTT Records ihre Schützlinge aus Liverpool anpreisen, nehmen den Mund voll bis zum Deepthroating: "Sie werden Duran Duran dazu bringen, die Scheiße von ihren Schuhen zu lecken." Der Lauf der Geschichte soll Paul Morley, dem Mitbegründer des Labels, gewieften Verkäufer und Vater einer bis dato beispiellosen Werbekampagne, beipflichten.

Dabei planten ZTT ursprünglich gar kein Album von Frankie Goes To Hollywood. Seine Strategie, die Morley im Rückblick "zugleich unfassbar naiv und unglaublich gerissen" findet, sah die Veröffentlichung dreier Singles vor. Die sollten nacheinander die übersichtlichen Themenfelder Sex, Krieg und Religion abgrasen. Danach wollte man die Truppe an ein Majorlabel verhökern, "für fünf Millionen, an eine Firma wie CBS", gibt Paul Morley schamlos zu.

Der überwältigende Erfolg, den Frankie Goes To Hollywood - noch ganz getreu der ausgegebenen Marschroute - mit "Relax", "Two Tribes" und "The Power Of Love" einfahren, wirft den ausgeklügelten Masterplan allerdings gründlich über den Haufen. Ihren pikanten, teils unbequemen Inhalten, ihrer Süffisanz und ihrer Überlänge zum Trotz landen alle drei Tracks auf Platz eins der britischen Singlecharts. Erst beflügelt von den Verkaufszahlen brüten Produzent Trevor Horn und seine Gemahlin Jill Sinclair, die beiden anderen Strippenzieher hinter ZTT Records, ein Albumkonzept aus.

Über eineinhalb Millionen Vorbestellungen befördern "Welcome To The Pleasuredome" unmittelbar nach seiner Veröffentlichung im Oktober 1984 an die Spitze der Hitlisten des Vereinigten Königreichs. Nach drei Monaten zählt die 1985 Platin-veredelte Platte, die es eigentlich gar nicht geben sollte, schon zu den bestverkauften Longplayern der Dekade. Der Record Mirror krönt Frankie Goes To Hollywood gar zur Band des Jahres. Wie kaum eine zweite Combo üben die Jungs aus Liverpool mit ihren Aliierten bei ZTT Einfluss auf Hi NRG aus, die kurze Atempause, ehe aus der eben wiederbelebten Asche des Discosounds dessen hässlicher Mutantenbruder Eurodance kriecht.

Dass ihr Debüt auch gleich den Zenit des Schaffens von Frankie Goes To Hollywood markiert und damit den Anfang von Ende einläutet ... man konnte es angesichts des lodernden Feuers schon ahnen: Dieser Exzess wird nicht lange dauern. Tatsächlich legen Frankie Goes To Hollywood mit "Liverpool" zwar noch ein weiteres Album nach. Dem folgen dann aber nur mehr ausufernde Remix- und Greatest Hits-Sammlungen, ein Zerwürfnis und, Jahre später, der halbherzige Versuch einer Reunion. Einen Lidschlag in der Musikgeschichte lang behält Sänger Holly Johnson jedoch Recht mit seiner an Narzissmus grenzenden, höchst selbstbewussten Vorstellung: "The world is my oyster."

Einiges an diesem Album wirkt zerfahren und unausgegoren. Möglicherweise tragen aber gerade seine offenkundigen Schwächen dazu bei, die Größe von "Welcome To The Pleasuredome" zu betonen. Angesichts der Tiefpunkte - die ... äh ... gewöhnungsbedürftige Interpretation der Springsteen-Nummer "Born To Run" etwa - wirken die Höhen um so schwindelerregender.

Dass die Platte auf voller Länge kompromisslos tanzbar und brachial unterhaltsam ausfällt, täuscht nur bei äußerst oberflächlicher Betrachtung darüber hinweg, dass neben enormen Witz und bis ins Groteske übersteigerter Ironie auch politische Botschaften und lyrische Vorlagen die Party befeuern. Im Synthie-Pop-Deckmäntelchen steppt hier ein waschechtes Punk-Monster auf den Tanzflächen der Welt. So furcht- wie respektlos nehmen Frankie Goes To Hollywood Geschichte und Gegenwart, Religion, Liebe, Sexualität, Krieg und Frieden ins Visier und Politiker, die königliche Familie und sich selbst auf die Schippe. Sie erobern damit nicht nur die schwule Subkultur, sondern auch den Mainstream im Sturm.

Frankie Goes To Hollywood lassen Prinz Charles über Orgasmen philosophieren, legen Ronald Reagan Hitler-Zitate in den Mund, spielen offensiv mit der Homosexualität ihrer Mitglieder Holly Johnson und Paul Rutherford, zelebrieren die Ausschweifung und begegnen Konventionen und Erwartungshaltungen aufgeschlossen - mit dem Vorschlaghammer. Systemzersetzender gingen die Sex Pistols auch nicht zu Werke. "Krisco Kisses" dürfte zudem so ziemlich der erste Song über die Praxis des Fistens sein, den die Pop-Welt bisher gehört hat: "You fit me like a glove, my love." Aua? Och ... "Frankie say: Relax!"

Mit "Relax" nimmt der Wahnsinn 1983 seinen Anfang. Trevor Horn, der Mann, der die 80er (zumindest soundtechnisch) erfunden hat, entdeckt Frankie Goes To Hollywood, als die, zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt, im Rahmen der Fernsehshow "The Tube" eine erste Version des Tracks spielen. "Mehr Jingle als Song", so das Urteil des Produzenten. Dieser Umstand schreckt ihn allerdings keineswegs ab, im Gegenteil: "Ich steh' auf Material, das ich in meinem Sinne zurechtbiegen kann." Er nimmt Frankie Goes To Hollywood bei ZTT Records unter Vertrag und biegt in der Folge eine ganze Menge.

Textzeilen, die direkt aus David Lynchs unerfreulichen Streifen "Eraserhead" stammen, wandern zum Beispiel grußlos in den Papierkorb. Überfordert von Horns Perfektionismus und vermutlich auch ein wenig eingeschüchtert von seinem Ruf kehren die Bandmitglieder bald in ihre Heimat Liverpool zurück. Horn lädt unterdessen, um Aufnahmen von "Relax" zu bekommen, die seinen Ansprüchen entsprechen, Sessionmusiker in sein Londoner Studio. Er engagiert die Blockheads, Ian Durys einstige Backing-Band. Aber auch deren Arbeit befindet er für nicht gut genug: Es klingt ihm zu antiquiert.

Die prägnante Basslinie, die Norman Watt-Roy lieferte, kennt heute noch jeder, der in den 80ern auch nur zehn Minuten bei Bewusstsein war. Sie darf bleiben. Den ganzen Rest von "Relax" arrangiert Andy Richards per Synthesizer neu. J. J. Jeczalic, den Horn von früheren Arbeiten mit Art Of Noise her kennt, programmiert die Rhythmussektion dazu. Holly Johnsons Gesang landet erst nachträglich auf dem Song. Paul Rutherford, Peter Gill, Mark O'Toole und Brian Nash werden zwar als Urheber geführt. Von ihnen hört man auf "Relax" aber gerade noch das Sample einer Aufnahme, wie sie in einen Pool springen.

"Die Sache ist die:", erklärt Trevor Horn Jahre später sein Vorgehen, "Schau, 'Relax' sollte ein Hit werden. Ich hätte diese Aufnahmen alleine nie so hinbekommen. Die Band hat am Ende zwar nicht gespielt, aber die ganze Atmosphäre stammte von ihnen." Parallel zum unorthodoxen Entstehungsprozess lanciert Paul Morley, provokante Sado-Maso-Videos, T-Shirts und ein Computerspiel inklusive, eine Werbeoffensive, die er treffend einen "strategischen Angriff auf den Pop" nennt. Duran Duran haben sich hoffentlich schon warm angezogen.

"Relax" erscheint im November 1983, fast ein Jahr vor "Welcome To The Pleasuredome". Gestaltet sich der Start noch schleppend - die Nummer dümpelt irgendwo zwischen den Plätzen 67 und 35 der Charts - sorgt am 5. Januar ein Auftritt bei "Top Of The Pops" für Auftrieb: Eine Woche später rangiert "Relax" schon auf Platz sechs. Am 11. Januar beschert BBC-Radio-DJ Mike Read dem Track Gegenwind, der sich als orkanartiger Rückenwind entpuppt: Er bricht die Ausstrahlung der Nummer ab und lässt sich in einer wahren Schimpftirade über die "ekelhafte Obszönität" des Songs und der Covergestaltung aus. Bessere Werbung konnte selbst Marketingstratege Morley nicht ersinnen: "Relax" klettert auf Platz zwei und steht eine weitere Woche später auf der Pole Position.

Reads Zornausbruch lassen Frankie Goes To Hollywood von Schauspieler und Stimmenimitator Chris Barrie, der ihnen auch den Prinz Charles und den Ronald Reagan gab, nachsprechen und verwenden ihn als Intro für die dritte Single, "The Power Of Love": eine unerreicht überzeichnete Liebesballade, die mit christlichen Bildern im Gepäck den Kampf gegen Blutsauger und Comic-Bösewichte aufnimmt und dabei unverschämt effektiv auf die Tränendrüsen drückt. "I'll protect you from the Hooded Claw, keep the vampires from your door." Letzten Endes dreht sich eben alles doch nur um die Liebe, "pure, the only treasure".

Zwischen dieser und ihrer ersten Nummer eins platzieren Frankie Goes To Hollywood "Two Tribes" an der Spitze der britischen Hitlisten. Drei Singles in Folge auf Platz eins - das haben vor ihnen nur Gerry & The Pacemakers geschafft. Deren "Ferry Cross The Mersey" findet sich, zusammen mit der in der Fassung von Edwin Starr populär gewordenen Antikriegs-Hymne "War" und Burt Bacharachs "Do You Know The Way To San Jose", unter den Coverversionen auf "Welcome To The Pleasuredome". "Two Tribes" fährt Bass und Gitarren, Sirenen und politische Reden auf, außerdem Samples, die aus "Protect And Survive" stammen. Dabei handelt es sich um eine Serie von Informationsfilmchen, die darüber aufklärt, wie der Brite im Falle eines Nuklearschlags versuchen soll, seine Haut zu retten.

Wir erinnern uns? Wir schreiben die 80er Jahre. Nicht jeder geht so entspannt mit schwulen Lederkerlen um wie Lemmy, der bei Frankie Goes To Hollywoods erstem Auftritt im deutschen Fernsehen, ebenfalls in Leder gewandet, zu ihnen auf die Bühne steigt, mitgroovt und mal eben die bestrapste Backgroundtänzerin entführt. Politisch herrscht weithin eisiges Klima. Der Kalte Krieg treibt schauderhafte Blüten.

Mittendrin entfesseln Frankie Goes To Hollywood, wie es ein Rezensent der Frankfurter Rundschau formuliert, "ein ironisches Spiel mit dem eigenen Phalluskult, gemischt mit Antikriegsparolen im Discostampf". Das stimmt zwar, verschweigt aber die weit darüber hinaus gehende akrobatische Jonglage mit Mythologie, Poesie, Stereotypen und Klischees. Den einen oder anderen haben Frankie Goes To Hollywood möglicherweise sogar dazu animiert, Nietzsches "Geburt der Tragödie" zu lesen. Oder Samuel Taylor Coleridges Gedicht "Kubla Khan". Wo liegt noch gleich dieses Xanadu?

Daryl Easlea von der BBC schaut genauer hin: "Gut möglich, dass Horn nie etwas besseres produziert hat als den Titeltrack dieses Albums", schreibt er 2010 anlässlich einer der zahlreichen Wiederveröffentlichungen von "Welcome To The Pleasuredome". "Er war dumm, unverfroren und lächerlich - und die beste Progressive Rock-Aufnahme der 80er. Er mag sich unter glänzendem Furnier und Modernismus verstecken, aber tatsächlich handelt es sich um einen Yes-Track. Die Tatsache, dass deren Steve Howe die Akustikgitarre darauf spielt, unterstreicht das noch. Damals hat man ihn zu oft gehört, heute hört man ihn nicht oft genug: Das ist das Trojanische Prog-Pferd in den Stadtmauern der Charts - und mit riesigem Abstand der beste Track auf dieser Platte."

Einzig das ausgegebene hehre Ziel verfehlt der knapp viertelstündige, opulente Song: Vorab optimistisch (um nicht zu sagen: großmäulig) als vierte Nummer-eins-Single angekündigt, schafft es "Welcome To The Pleasuredome" tatsächlich nur auf Rang zwei. An "Easy Lover", dem Duett von Phil Collins und Philip Bailey, führt zu dieser Zeit kein Weg vorbei. Frankie Goes To Hollywood haben ihren Höhenflug beendet. Nie wieder soll die Band so groß und so erfolgreich sein, wie zuvor. "Frankie say: No more."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

F - Pray Frankie Pray

  1. 1. Well ...
  2. 2. The World Is My Oyster
  3. 3. Snatch Of Fury (Stay)
  4. 4. Welcome To The Pleasuredome

G - Say Frankie Say

  1. 1. Relax (Come Fighting)
  2. 2. War (... And Hide)
  3. 3. Two Tribes (For The Victims Of Ravishment)
  4. 4. (Tag)

T - Stay Frankie Stay

  1. 1. Ferry (Go)
  2. 2. Born To Run
  3. 3. San Jose (The Way)
  4. 4. Wish (The Lads Were Here)
  5. 5. The Ballad Of 32

H - Play Frankie Play

  1. 1. Krisco Kisses
  2. 2. Black Night White Light
  3. 3. The Only Star In Heaven
  4. 4. The Power Of Love
  5. 5. Bang

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