laut.de-Kritik
81 und noch kein bisschen müde.
Review von Giuliano BenassiDen Augenblick nutzen - eine Strategie, die mindestens in zwei Situationen Graham Nashs Leben umgekrempelt hat. Einmal 1968, als er seine damalige Freundin Joni Mitchell im Laurel Canyon besuchte und dabei zwei Männer kennen lernte, die gerade an einem Lied werkelten. Er gesellte sich dazu, Augenblicke später waren Crosby, Stills and Nash geboren. Nash verließ die erfolgreichen The Hollies, siedelte von England nach Kalifornien um und wurde zum Superstar.
Der zweite wichtige Augenblick war bei einem der letzten Auftritte von CSN 2014 in New York. Nash lernte die Künstlerin Amy Grantham kennen, die Mitchell nicht unähnlich sah, und begann mit ihr ein neues Leben. Das Bild, das er ein Jahr zuvor in seinem Memoiren "Wild Tales" gezeichnet hatte - das eines glücklichen, lang verheirateten Ehemannes im Kreise seiner Kinder und Enkel, der seinen letzten Jahren auf Hawaii verbringen wollte? Geschichte. 2016 zog er mit der gerade halb so alten Grantham in eine Zweizimmerwohnung nach Manhattan, 2019 heirateten sie.
Zeit für ein neues Leben, also. Nashs Kinder waren wenig begeistert (seine Ex-Frau ist nach der Scheidung an Krebs gestorben), doch auch sie werden stolz auf einen Vater sein, dem man die mittlerweile 81 Jahre nicht ansieht. Scheint doch etwas dran zu sein, an einem halbwegs gesund geführten Leben, in dem Nash neben der Musik auch auf ein zweites erfolgreiches Standbein setzte, die Photographie. Während sich Stephen Stills mehr oder weniger zurückgezogen hat und David Crosby im Januar 2023 gestorben ist, hat Nash noch genügend Energie, um auf Tour zu gehen und ein neues Album zu stemmen.
Es sei das persönlichste, das er jemals aufgenommen hat, so Nash. Das ist natürlich kaum mehr als eine PR-Floskel, denn was gibt er persönlicheres als "Our House", jenes 1970 erschienene Über-Stück, das die Idylle seiner Beziehung zu Mitchell so einprägsam beschrieb? Lange ist es her, weshalb das Album mit einer Bestandsaufnahme beginnt. "I used to think that I would never love again / I used to think I'd be all on my own / I really thought that it was coming to an end / And just the thought of it chilled me to the bone / But not now", so die ersten Zeilen.
"Ich wollte vollkommen ehrlich sein. Ich wollte alle wissen lassen, dass es scheißegal ist, wie alt man ist. Wenn man Leidenschaft in sich spürt, kann man noch alles tun" erklärt Nash in einem Interview. Dazu gehören nicht nur ein persönlicher Neuanfang, sondern, wie schon sein ganzes Leben lang, eine deutliche politische Positionierung.
Lass uns all die Probleme lösen, die wir verursacht haben, und den jüngeren Generationen ein besseres Leben ermöglichen, fordert er in "Better Life", das so schön schnuckelig daher kommt wie einst "Teach Your Children". Der Plural von "Golden Idols" bezieht sich im Prinzip nur auf eine Person, nämlich jene, die während ihrer Präsidentschaft gerne mit unwirklicher Gesichtsbräunung auftrat. "Sie versuchen, die jüngere Geschichte umzuschreiben, als die MAGA-Touristen den Hügel eroberten. Sie werden nicht aufbegehren, denn sie sind gekauft und bezahlt. Goldene Götzen kontrollieren sie immer noch", erklärt Nash.
Liebeserklärungen dürfen natürlich nicht fehlen. Zunächst an seine Ex-Frau, oder zumindest scheint es so: "Love of Mine / I didn't mean to hurt you so badly / I didn't mean to make your soul so sad / About me and you", so Nash im bewegenden Stück Nummer vier. Seine neue Holde kommt aber nicht zu kurz. "In A Dream" ist eine klassische Klavierballade zum Dahinschmachten, im den zarten "Follow Your Haart" singt Nash in schönster CSN-Tradition (wobei die Harmonien von ihm selbst stammen). Grantham gehört auch der abschließende Song "When It Comes To You": "You're the best thing's that happened to me / And at this point in life, that's something to say", freut sich Nash.
Musikalisch bewegt er sich in gewohnten Pop-Rock-Folk-Gefilden, produziert von seinem langjährigen Tour-Keyboarder Todd Caldwell. Seine Stimme ist beeindruckend jugendhaft geblieben, die Zeit hat an ihr kaum genagt. Stilsicher flechten die Beteiligten ein bisschen Paul McCartney ein ("A Better Life", "Star & Stripes"), während "It Feels Like Home" auch eine ruhigere Nummer von Neil Young sein könnte. Mit "Theme From Pastoral" streut Alan Price, einst bei The Animals, ein nettes kammermusikalisches Intermezzo ein und untermalt auch "I Watched It All Come Down" mit Streichern.
In der schnellen Nummer "Stand Up" fordert Nash seine Hörer auf, aufzubegehren und dem Nächsten zu helfen. Rock'n'rollig geht es auch in "Buddy’s Back" zu, das stimmlich wieder an CSN erinnert. Kann das tatsächlich David Crosby sein, der in dieser Hommage an Buddy Holly im Hintergrund singt? Nein, ist er nicht, besonders ist das Lied trotzdem, denn die Stimme stammt von Nashs Jugendfreund Allan Clarke, mit dem er 1962 The Hollies gründete. Ein Kreis, der sich hier schön schließt.
Mit Crosby habe er sich wieder versöhnt, ließ Nash übrigens verlauten, nachdem sie sich 2014 heftig gestritten hatten. Crosbys Tod kam jedoch so plötzlich (Corona), dass ein letztes klärendes Gespräch nie stattfand. "Er hinterließ eine Sprachnachricht: 'Ich muss unbedingt mit dir reden'. Also vereinbarte ich eine Zeit und wartete und wartete. Er hat nie angerufen. Und dann war er weg", so Nash.
Einige gute Lieder also und ein Platte, auf die er zurecht stolz ist. 2023 verbringt Nash weitgehend on the road. Als gestandener Profi weiß er natürlich, dass sein Publikum die alten Sachen hören will, also ist die Tour "Sixty Years of Songs and Stories" betitelt. Der Besuch lohnt sich bestimmt - im September kommt Nash für mehrere Auftritte auch in den deutschsprachigen Raum.
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