laut.de-Kritik

Ein Teelöffel Zucker zur Faust ins Gesicht.

Review von

85 Stunden, 40 davon für das Abmischen, zack und fertig war "Zen Arcade". Bob Mould (Gitarre, Gesang), Grant Hart (Drums, Gesang) & Greg Norton (Bass) spuckten eines der einflussreichsten Rockalben in einem Zeitraum raus, in dem andere Bands gerade einmal ihren Snaredrum-Sound festlegen. So weit, so Punk.

Dabei waren Hüsker Dü anno 1984 fernab jeder Lederjacken- und Nietenbänder-Ästhetik zuhause, die man damals dem Punk mit den Sex Pistols und Ramones zuordnete. Trotzdem war das Trio aus Minnesota mit den ersten beiden Alben schnell in der Ecke von "One, two, fuck you!", was anlässlich zweier Langspielplatten voll mit rasend schnellem Lärm nicht einmal die Band abstreiten konnte.

Hervorgehend aus dem College-Umfeld Anfang der Achtziger waren sie mit R.E.M, den Minutemen, Black Flag und den Replacements die Speerspitze der neuen Generation, die mal die Nähe, mal die Distanz zur Punkrevolution der 70er suchte. Mould und Hart wählten die Überholspur und drückten das Tempo an, ließen Moulds Fingerkünste an der Flying V ordentlich fliegen und schrien sich gegenseitig nieder, auf und abseits der Bühne.

Dass es sich beim Trio aus Minnesota nicht um eine ziellose Haudrauf-Truppe handelt, zeigte schon die ungewöhnliche Besetzung mit Mould und Hart, den zwei Songwritern und Sängern, wobei letzterer hinter den Drums Platz nahm – bis heute wohl eine Seltenheit in den härteren und schnelleren musikalischen Gangarten.

Und der fand zwischen der frenetischen Stickarbeit auch noch genug Hirnschmalz für die ein oder andere Melodie, die aus seiner Classic Rock-Erziehung nicht tot zu kriegen war. Erste Anzeichen dafür finden sich auf dem Zwischengang "Metal Circus" aus dem Jahr 1983. Wie es weitergeht, diktierte Bob Mould im selben Jahr niemand Geringerem als dem zukünftigen Legendenproduzenten Steve Albini ins Notizheft: "We're going to try to do something bigger than anything like rock & roll and the whole puny touring band idea. I don't know what it's going to be, we have to work that out, but it's going to go beyond the whole idea of 'punk rock' or whatever." Es war eine Revolution mit Ansage.

"Zen Arcade" erschien im Juli 1984 und sorgte allein mit seinen Eckpunkten schon für aufgeregtes Flüstern: "Hast du gehört? Das Ding hat 23 Songs und ist über 70 Minuten lang! Ein Doppelalbum!", "Fast jeder Song in einem Take eingespielt!", "Krass und die spielen sogar fucking Klavier zwischendurch."

Tatsächlich liegt hier eines der wenigen Doppelalben des Punk auf dem Plattenteller. Damit nicht genug, verpackten Hüsker Dü in "Zen Arcade" noch eine weit gefasste Storyline, was es schlussendlich zur wahren Rock- bzw. Punkoper qualifiziert. Wir folgen einem namenlosen Protagonisten auf der Flucht aus dem Elternhaus raus in die triste Realität, die ihm allerdings auch nicht das Gefühl des Hingehörens geben kann, das er sich so sehnlich wünscht. Teenage Angst, anyone? Die Hüsker-Jungs legten auf, was Nirvana und Co. Jahre später in den Mainstream trugen. Ein Teelöffel Zucker zur Faust ins Gesicht.

So ausladend die Story, so abwechslungsreich die Instrumentierung. Von Piano-Interludes bis 13-minütigen Krachorgien fand die Band für alle möglichen Stile das richtige: Die straighten Rocker sind epische Punkbrecher, "Turn On The News" gehört sowieso in eine Liga mit "Anarchy In The UK" oder "London Calling". Die Lagerfeuer bedient die Band auf "Never Talking To You Again", wo Grant beherzt zur Akustikgitarre greift und fast feinsinnig mit Mould harmoniert. Der wiederum springt bei "Chartered Trips" ganze Dekaden vor in zuckersüße Punkpop-Gefilde, bevor der ewige Grantler seinem Groll – ach was, seinem blanken, siedenden Hass im wütenden fünfläufigen Geschoss von "Indesicion Time", "Beyond The Threshold", "Pride", "I'll Never Forgt You" & "The Biggest Lie" freien Lauf lässt.

Hier reißt er mit messerscharfen Soli alles nieder, malträtiert seine Stimmbänder mit klarer Ablehnung gegenüber der Welt, während Grant in mörderischer Geschwindigkeit die Felle bearbeitet. Der Grund, warum man überhaupt noch Akkordfolgen ausmachen kann, hat einen Namen: Greg Norton. Der Bassist – stets im Schatten der beiden Alphatiere an Gitarre und Drums – hielt mit seinen rumpelnden Basslines das Fundament. Bei solchen Auswüchsen wie "Hare Krsna" oder dem rückwärts abgespielten Instrumental "Dreams Reoccurring" hilft aber auch kein Bass der Welt.

Je stärker diese Gegensätze von krachigen Interludes und eher klassischeren Songstrukturen auf "Zen Arcade" sind, umso klarer wird jedoch die absolut perfekte Abstimmung dieses Albums: Nach Moulds Wutorgie bis "The Biggest Lie" nehmen sie das Tempo raus ("What's Going On") greifen beherzt zu "Ohs" und "Ahs" in der Hook ("Masochism World"), schwingen sich durch das fett abgehangene "Standing By The Sea" und schielen beim luftigen Refrain von "Somewhere" schon ganz auf das psychedelische Gitarrensolo, das den Song bald wegwischt.

Immer wenn ein gewisser Wohlfühlpunkt einsetzt, dass man dieses Album endlich geknackt hat, packen die drei einen neuen musikalischen Stil aus ihrem Beutel, im Zweifelsfall auch einfach ein Noisewahnsinn wie das überbordende Instrumental am Schluss des Albums. Aber es sind solche Dinge, die dem Genre Mitte der Achtziger ungemein gut taten.

Nicht zuletzt, da Hüsker Dü mit "Zen Arcade" eine gewaltige Duftmarke auch außerhalb ihres Untergrund-Standorts hinterließen und somit das Interesse von Warner Music auf sich zogen. Wenige Jahre später war das Trio eine der ersten DIY-Bands auf einem Independent-Label, die zum Major-Plattenvertrag promovierten. Breitenwirksamkeit ist zwar ein hässliches Wort, taucht man aber in den mit unerhörter Inbrunst gesungenen Mittelteil von "Standing By The Sea" ein oder falsettiert verträumt "Pink Turns To Blue" mit, kann man den damaligen A&R-Scouts nur bekräftigend gratulieren. Hüsker Dü zeigten dem Untergrund, was alles möglich ist – sowohl strukturell, als auch musikalisch.

Denn diesen Pioniergeist, die Grenzenpulverisierung des Punkgenres kann man Mould & Co. nicht hoch genug anrechnen. Zu jener Zeit klang einfach niemand innerhalb weniger Songs gleichzeitig so brutal schnell und angepisst, dann wieder unvergleichlich catchy wie der Dreier (exemplarisch allein das Piano-Instrumental von "Monday Will Never Be The Same", das als Intro zu einer Journey-Hymne auch nicht fehl am Platz wäre.)

Mit ihren Ambitionen und mit "Zen Arcade" als Achterbahnfahrt eines Albums schlugen sie bis heute in "Influenced By"-Listen aller Gitarrenbands zwischen Straubing und East Texas auf. Von Nirvana-Tieftöner Novoselic ist gar folgendes Zitat überliefert: "Nirvana's musical style is nothing new, Hüsker Dü did it before us." Ein nettes Kompliment im Nachhinein. Hüsker Dü brachen 1987 aufgrund der Spannungen der beiden Alpha-Tiere Mould und Hart auseinander. Die Fackel der Innovation trugen andere Gitarrenbands weiter. Die Saat wurde in 85 Stunden harter Arbeit in Minnesota gesetzt.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Something I Learned Today
  2. 2. Broken Home, Broken Heart
  3. 3. Never Talking To You Again
  4. 4. Chartered Trips
  5. 5. Dreams Reoccurring
  6. 6. Indecision Time
  7. 7. Hare Krsna
  8. 8. Beyond The Threshold
  9. 9. Pride
  10. 10. I'll Never Forget You
  11. 11. The Biggest Lie
  12. 12. What's Going On
  13. 13. Masochism World
  14. 14. Standing By The Sea
  15. 15. Somewhere
  16. 16. One Step At A Time
  17. 17. Pink Turns To Blue
  18. 18. Newest Industry
  19. 19. Monday Will Never Be The Same
  20. 20. Whatever
  21. 21. The Tooth Fairy And The Princess
  22. 22. Turn On The News
  23. 23. Reoccurring Dreams

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