laut.de-Kritik

Ein überwältigender Batzen Leidenschaft.

Review von

In einer Welt, wie Paul Banks sie besingt, scheint der Himmel nachts schwärzer als im Jetzt zu sein und der Tag unterscheidet sich davon nur in Nuancen. Sterne mag es wohl länger schon keine mehr geben und für Wettervorhersagen bleibt kein Platz. Denn Regen ist hier Dauerzustand, der nur selten vom Nebel unterbrochen wird. Eine fordernde Kälte liegt dabei in Banks Stimme, deren Fundament jedoch mehr aus Stolz, als aus ignoranter Ablehnung oder unterschwelliger Larmoyanz gegossen sein mag.

Wie der Ich-Erzähler in einem Rimbaud-Gedicht beginnt im Auftakt mit "Pioneer To The Falls" eine lyrische Zeitreise zum Montparnasse während einer Art "Nouveau Belle Epoque". Für diese Reise gilt es allerdings, sich noch geschwind bei Oscar Wildes Leibcouturier in London mit den zum ausgehenden 19. Jahrhundert angesagtesten Stoffen einkleiden zu lassen. Dazu vielleicht noch einen Gehstock mit Elfenbeingriff und ein schmuckes Monokel als modische Accessoires im Sinne eines Erich von Stroheim. So auf viktorianischen Snob getrimmt würde man die Reise antreten können, weiter durch Pariser Cafés, wo bei einem zünftigen Schlückchen Absinth die "Blumen des Bösen" wachsen und zur Mitternacht die "Grüne Fee" erscheint.

Nach fast 3 Jahren Pause galt im Interpol-Studio der neue Leitsatz "More Keyboards!". Carlos Dengler, hauptberuflich Bassspieler bei Interpol, soll dieser Maxime schon während der gesamten Kompositionsphase gefolgt sein. Songs wie "No I In Threesome" leben von dieser neuen Beschwingtheit und geben dem eigentlich schwermütigen Song eine unerwartete Wendung mit Kurs auf Versöhnung und Trost. Oder die rückwärts abgespielten Gitarren über dem Klavier am Ende von "The Scale", die für die Absurdität in den Lyrics ein direktes Spiegelbild in der Musik bilden. Es sind eben diese fein ziselierten Ornamente, die den Schweiß und die Ehrfurcht, aber auch die Freude und das Selbstbewusstsein im Schaffensprozess erahnen lassen.

"Our Love To Admire" kann jedoch trotz seiner Leichtigkeit nicht beim tagträumerischen Herumsitzen in Straßencafés entstanden sein. Aus diesem Werk spricht nicht das selbstvergnügte Laisser-faire eines Neo-Bohemien. Da muss offenbar knochenharte Arbeit dahinter stecken. Ja fast preußische Disziplin spricht aus Komposition, Arrangement und Produktion. Aber auch Experimentierfreude und hörbare Anstrengung, einen überwältigenden Batzen Leidenschaft auf Tonträger zu bannen. Ein Werk wie aus einem Guss, in seiner Geschlossenheit besonders, jedoch ohne den Anspruch, ein Konzeptalbum sein zu wollen.

Ein Song wie "Rest My Chemistry" entsteht deshalb auch nicht als flüchtige Notiz auf einem Bierdeckel aus einem Hauch von Ahnung oder Angelesenem. Er wächst aus direkt Gelebtem und selbst Erlebtem und hält wegen seiner Aufrichtigkeit jeglicher selbstbemitleidender Tristesse stand. Es ist andererseits die dandyhafte Selbstverliebtheit, die diesem Stück innewohnt, die es für jeden Außenstehenden in gleichem Maße erlebbar macht und den Raum für die Identifikation seines Hörers öffnet. Wer bei der Kessler'schen Gitarren-Ouvertüre nicht den Ansatz zu einer Gänsehaut zeigt, braucht es mit Identifikation gar nicht erst probieren.

Trotz des Fremdgehens mit dem Keyboard und den verstörend schönen Gitarren bleibt der Dengler-Bass weiterhin das Trademark dieser Band, was die Wahl von "The Heinrich Maneuver" zur ersten Single manifestiert. Er ist Getriebe und gleichzeitig kraftvoller Motor, dessen Zündkerzen nicht erlöschen können. Und dies nicht nur für dieses Stück oder diese Platte, sondern für das Gesamtwerk "Interpol". Ähnliche Meisterstücke auf vier Saiten sind nur von einem Simon Gallup oder dem frühen Peter Hook bekannt.

Das ist es, was diese Band auszeichnet: Die moderne Lyrik von Paul Banks, die in ihrer Metaphernfülle immer eine Mehrzahl an Interpretationsmöglichkeiten offen hält. Und trotz aller poetischer Darkness, die er in energischer Weise in den Vordergrund hebt, wird sie von den darunter schwebenden Instrumenten auf melodramatischen Wogen getragen und immer wieder aufgefangen. Wenn das Gemüt auch von dunklen Wellen umflutet wird, die es fast zum Ertrinken ins Meer betten, strahlt immer irgendwo von fern der Leuchtturm einer rettenden Insel dieser schiffbrüchigen Seele entgegen, um das Schwarz aus dem Nachthimmel zu nehmen.

Trackliste

  1. 1. Pioneer To The Falls
  2. 2. No I In Threesome
  3. 3. The Scale
  4. 4. The Heinrich Maneuver
  5. 5. Mammoth
  6. 6. Pace Is The Trick
  7. 7. All Fired Up
  8. 8. Rest My Chemistry
  9. 9. Who Do You Think
  10. 10. Wrecking Ball
  11. 11. The Lighthouse

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