laut.de-Kritik
Der Charli XCX-Produzent reißt den Sigur Rós-Sänger aus dem Fjord.
Review von Alex KlugSeit über fünf Monaten teilen wir uns den Planeten nun schon mit "Exhale". Gut, ihr wisst wahrscheinlich noch nicht, dass es sich dabei um den Song des Jahres handelt, aber das ist okay. Ich wusste es anfangs ja auch nicht.
Es dürften einige Gigabyte Sigur Rós-Material sein, die seit dem Ausstieg Orri Páll Dýrasons auf isländischen Festplatten den Dornenröschenschlaf schlummern. Seit dem vertrieb sich Jónsi seine Zeit mit einer neuerlichen Tournee mit Ex-Partner und Ambient-Frickler Alex Somers, ziemlich egalen Walgesang-Kooperationen mit Carl Michael von Hausswolff und mehreren Remixalben – deren dystopisch-elektronischen Touch "Óveður" als letzte richtige Sigur Rós-Single bereits angedeutet hatte.
Was nun auf "Shiver" geschieht, steht jedoch nicht einfach auf einem anderen Blatt, sondern in einer ganz anderen Bibliothek. Die Versprechen vorab: "I'm trying to get more into the pop world." Das Ergebnis hinterher: 11 Songs, vermarktet unter dem Banner Jónsi. Dabei trägt "Shiver" noch eine andere Handschrift, die nicht viel mit Falsett und isländischer Naturmystik zu tun hat: Die von Mister A. G. Cook – bekannt als Produzent und "Creative Director" von und für Charli XCX.
Mit "Exhale" vertont das ungleiche Duo den hier maßgeblichen stilistischen Wandel auf eine für Postrock-Freunde bekömmliche und überhaupt ziemlich gelungene Art und Weise. Jónsi, der zärtliche Stimmästhetiker, Cook, der gegen Ende langsam die tanzbaren Synthies reindreht. Himmlisch. Und zugleich so resolut: Jetzt ist Schluss mit Selbstzitaten. "Shiver" wird der größte Remix von allen.
Cook erschafft krachende Klangwelten, verzerrt und verdreht Rhythmen auf wirklich unvorhersehbare Weise, switcht dabei in Sekundenschnelle vom Technoiden ins Sphärische. Beängstigend. Beängstigend nicht zuletzt, weil diese akustische Brutalität, wie sie etwa in "Wildeye" erklingt, einfach nicht zum verletzlich sanften Jónsi, den man aus 26 Jahren Sigur Rós zu kennen glaubt, passen mag.
Cooks Label trägt übrigens den Namen "PC Music". Und tatsächlich sind die beiden Vokabeln "Personal" und "Computer" ganz wunderbare Metaphern für die Zusammenarbeit zwischen Jón Þór Birgisson und Alexander Guy Cook. Der eine klatscht dem anderen nicht einfach ein paar Beats in die Dropbox, nein, es erinnert mehr an dieses Radiohead-Szenario, in dem Jonny Greenwood Thom Yorkes Vocals am Kaoss-Pad bis zur Unkenntlichkeit verfremdet.
Solche verphaserten und stotternden Gesänge sind die Grundrezeptur für "Shiver" – egal ob im modernen US-Art-Pop-Stil ("Swill") oder in Form von Bon Iver-artigen Glitches ("Hold"). Das ewige Hin und Her zwischen sperrig und federleicht entspricht dieser etwas zu cleanen Ästhetik, die Jónsi schon (mittlerweile längst in den USA angesiedelt) in seinen LA-Sound-Installation-Kunstausstellungen zur Schau stellte.
Ob im Elizabeth Frazer-Duett "Cannibal" oder im überragenden "Beautiful Boy": In ruhigen Momenten zeigt sich, wie unbefleckt "Shiver" im Fundament wirklich ist. Eine große Gummizelle, eine geschmeidige Klangoberfläche, der Jónsis Ausnahmeorgan echtes Leben einhaucht. Dann wieder: Krachende Dosensounds. Ätherische Soundscapes. Subtile Schönheit.
Exemplarisch hierfür ist die Mitte des 53-minütigen Albums: "Sumarið Sem Aldrei Kom" steht im Grunde in der Tradition späterer Sigur Rós-Balladen wie "Fljótavík" oder "Ára bátur" – wäre da nicht dieser stetige, kaum wahrnehmbare Vocoder-Kitzel. In "Kórall" flackert die Electronica-Nervosität von Gruppen wie 65daysofstatic auf, bevor "Salt Licorice" plötzlich gefährlich weit in trancige Eurodance-Gefilde vordringt.
Verdammt schwer zu packen, dieser späte Befreiungsschlag des Jón Þór Birgisson. Man könnte natürlich die Frage in den Raum stellen: Braucht die Welt gerade noch einen Art-Pop-Soundclasher, eine Art männliche Grimes? Aber die Frage kann man sich eben auch schenken. Denn wer soll einem schon Antwort geben, so ganz allein in der akustischen Gummizelle.
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