laut.de-Kritik
Dieser Orchester-Po(m)p gerät reichlich opulent.
Review von Philipp KauseJoss Stone hat 2021 ihr Insel-Hopping und schöne Akustik-Sessions mit Leuten all over the planet für ihren YouTube-Kanal recycelt - Aufnahmen aus ihrer 'Total World Tour'. Wer daraus schloss, das Folgealbum würde in ein ähnliches Horn stoßen und unplugged Urlaubsmusik mit Elementen aus zahlreichen Ländern bieten, liegt verkehrt. "Never Forget My Love" atmet mit angestrengtem Gesang auf Streichern erstaunlich viel Tom Jones-Pomp aus. Schon der Opener "Breaking Each Other's Hearts" hat gute Chancen auf einen Film-Score, wirkt jedoch fürs alltägliche Hören etwas überbreit.
Dass allen Tracks hier recht viel Unruhe innewohnt, hat eine gute und eine fragwürdige Seite. Die fragwürdige: Die Opulenz wirkt sogar für die Sängerin selbst anstrengend, ihr Weg in quietschhohe Tonlagen gelingt zwar, klingt aber unnatürlich und mitunter etwas gepresst und schräg (so in "Oh To Be Loved By You"). Wenn das kämpferische Timbre in Bann zieht, wie in "You Couldn't Kill Me" der Fall, bricht die Spannung dort zu früh ab und endet die Nummer ratlos taumelnd. Zudem weihnachtet es gefühlt ("Love You Till The Very End"). Und schließlich ist keine Dynamik fühlbar, wenn alles laut und überladen konstruiert ist und vor Kitsch trieft.
In "You're My Girl" darf man sich ein bisschen ausruhen, das tut gut, "The Greatest Secret" wartet mit Herz-erweichenden Trompeten-Fanfaren auf (3'23" bis 4'01"). Aber selbst wenn es mal großartige Momente dank des dicken Auftragens gibt, und auch wenn mal ein Track Pause ist, übernimmt sich die CD in Sachen Üppigkeit.
Die gute Seite: Fängt man die Scheibe von hinten an zu hören und startet mit "When You're In Love", setzt sich eine andere Sorte Unruhe durch, eine produktive - fernab der Penetranz der meisten anderen Songs. Flirrig, brodelnd, zudem fröhlich und mitteilsam zeigt sich das lasziv, ein bisschen somnolent und kindlich gesungene "When You're In Love" und entblättert sich in sechs einhalb dramatisch und vielfältig ausgefüllten Minuten: als mondänes Easy Listening-Entertainment einer Croonerin (am Anfang), mit Minnie Riperton-Sweetness in der Stimme (verlangsamt gespielte zweite Phase), dann als jazzig untermalte Lautmalerei mit Impro-Charakter (im Mittelteil), und als nostalgischer Funk-Pop, wie ihn George Benson kaum besser vermochte.
Bei aller Über-Erregtheit hat "Never Forget My Love" aber spürbar etwas mitzuteilen und erscheint nur selten seicht. "You Couldn't Kill Me" zum Beispiel bebt, donnert, hält inne, zeigt kathartische Ansätze und lässt Joss Freiraum, um mit ihrer Stimme zu spielen: nasal und doch hoch zu tönen, expressiv und voluminös aus sich rauszugehen, und dabei leise gegenüber den Instrumenten abgemischt zu sein. Die Intensität ist überwältigend, und die letzte Minute, quasi der letzte Akt des Lieds, ist vielleicht deshalb ohne eine gute Idee fürs Song-Ende, weil es zu verführerisch schien, sich an Dolores' "in your head"-Zeile aus "Zombie" anzulehnen. Liebe zur Musik hört man hier auf ganzer Linie. Manche lang gezogenen Gospel-Bögen in "You're My Girl" sorgen für ein drittes sehr spannend gestricktes Stück, dem ein brillantes Outro mit Orgel den letzten Schliff verleiht.
Alles zusammen ergibt wahrlich nicht mein Lieblingsalbum der 34-Jährigen. Gleichwohl es völlig in Ordnung geht, eine neue Richtung einzuschlagen. Die Soulerin hat eine enorme Begabung zwischen Genres zu switchen, "Don't Cha Wanna Ride" (2004) und "Cut The Line" (2015) etwa trennen Welten, beide sind auf ihre Weise Hammer-Tunes. Der ganze Vorgänger "Water For Your Soul" war aus Reggae-Sicht ein notwendiger Impuls, das Genre herauszufordern, den die Rasta-Szene besser ernst genommen und als Innovation aufgegriffen hätte. Joss ist dieses Fremdgehen, im Rückblick beurteilt, sehr geschickt und mit einem zeitlos guten Ergebnis gelungen, was verständlicher Weise ihren Mut gesteigert hat, sich jetzt in eine Orchester-Platte zu stürzen. Und noch mehr Mut verdankt die Künstlerin laut eigener Aussage Producer Dave Stewart. Deswegen muss die Scheibe aber noch lange nicht zünden. Sie ist sehr emotional, gleichwohl auch sehr verkopft.
"Never Forget My Love" punktet sicher als Album mit sehr gutem Songmaterial. Die Darbietung jedoch lässt Zweifel an der harten Abmischung, den weitgehend zu hoch transponierten Lead Vocals und der Monotonie einer konstanten Überfülle aufkommen. All das sei der Britin verziehen. Der Versuch mal was Jazz-Affines zu machen ist redlich und erschließt der Künstlerin womöglich ganz neue Fan-Kreise.
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